Ein Gespräch mit Frederic Lion
Das Theater Nestroyhof/Hamakom feiert sein zehnjähriges Jubiläum, weshalb ich mich Anfang dieser Woche mit Frederic Lion, einer der zwei Personen der künstlerischen Leitung des Hauses, getroffen habe. (Ingrid Lang hatte so kurz vor der Premiere von Der letzte Mensch leider keine Zeit.) Es ist ein ungeahnt heißer Herbsttag vom Kaliber „Keine Jacke, Leiberl reicht“, als ich mit Lion auf seiner sonnigen Terrasse sitze und unter anderem über beruhigende Dystopien spreche und warum er kein Kulturpolitiker sein möchte.
Das Theater Nestroyhof/Hamakom, bei der ähnlichnamigen U-Bahn-Station Nestroyplatz gelegen, befindet sich in einem wunderschönen Mehrparteienhaus im Wiener Jungendstil, das von dem jüdischen Architekten Oskar Marmorek erbaut wurde. Von Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1938 waren die Räumlichkeiten des heutigen Theaters Schauplatz der reichen, jüdischen Unterhaltungskultur des alten Wiens, die mit dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland abrupt ihr Ende fand. Das Haus wurde 1940 arisiert und die damalige Besitzerin Anna Stein musste, wie Lion in unserem Gespräch erzählt, das Haus um einen Bettel verkaufen und emigrierte nach New York. Bis zur Eröffnung des Nestoyhof/Hamakoms sollten die Räumlichkeiten als Kino und als Filialen verschiedener Supermarktketten herhalten.
„Wir haben ein Bewusstsein über die jüdische Geschichte dieses Hauses und kommen immer wieder auf diese Wurzeln zurück. Sie ist ein inhaltlicher Anker“, beschreibt Lion die Haltung des Nestroyhof/Hamakoms zu der Vergangenheit der Räumlichkeiten. Anschließend erzählt Lion, dass es, für ein Theaterhaus mit eben dieser Geschichte, gar nicht so einfach gewesen ist, einen passenden Namen zu finden. Von allen Seiten ist ihm vorgeschlagen worden: „‚Nenn es unbedingt jüdisches Theater, das ist ein geiler Marketing-Begriff, da kennt man sich sofort aus, was da gespielt wird.‘ Da habe ich dann immer gesagt: ‚Na genau da wüsst‘ ich nicht, was ich spielen würde.‘“ Stattdessen ist Lion der Name „Hamakom“ eingefallen, „eine hebräische Begrifflichkeit, die einfach ‚der Ort‘ heißt. ‘Der Ort‘, habe ich mir gedacht, das ist nicht schlecht, das kurbelt die Fantasie an, wenn jemand fragt, lässt es sich leicht übersetzen, und es ist eine Referenz auf die jüdisch-hebräische Geschichte des Hauses.“
Das Programm des Nestroyhof/Hamakoms beschreibt Lion als „sehr politisch – im Sinne einer Neugier auf die Gegenwart in einem sehr historischen Raum“. Sowohl diese Beschreibung als auch die frühere Nennung der jüdischen Geschichte als Ankerpunkt für das Haus werden bestätigt, als wir innerhalb des Gesprächs eine kleine Zeitreise zum Eröffnungsstück des Hauses machen: Rückkehr nach Haifa ist ein Stück des israelischen Autors Ilan Hatsor, in dem der Nahostkonflikt besprochen wird und dabei der Fokus auf die Komplexität dieser Auseinandersetzung(en) liegt. Das Echo zu Rückkehr nach Haifa beschreibt Lion in unserem Gespräch so: „Man hat mir das natürlich – gerade auch in der jüdischen Szene– nicht vorgeworfen, aber man hat gesagt: ‚Muss ein jüdisches Theater gleich mit so etwas anfangen? Des is jo furchtbar.‘ Und meine Antwort war: ‚Ja, sicher, genau damit müssen wir anfangen! Das ist ein wichtiges Thema!“
Auf meine Frage, warum man die Spielzeit 2019/20 mit Der letzte Mensch von Philipp Weiss und so mit einem ganz anderen Stück beginnt, erwidert Lion schlicht: „Weil der Klimawandel eines der drängendsten Themen der Zeit ist.“ Im Gespräch selbst bin ich nicht weiter darauf eingegangen, aber über die Selbstverständlichkeit in Lions Stimme habe ich schmunzeln müssen. Grund dafür ist, dass ich vor dem Gespräch zwei-drei Klimastreik Plakate auf der Kommode im Eingangsbereich entdeckt habe: Man sieht sich freitags sicherlich einmal beim klimapolitisch-relevanten Stadtspaziergang!
Als ich anmerke, dass mir bei meiner Recherche über Der letzte Mensch aufgefallen ist, dass in dem Stück einer dystopischen Zukunftsvision, wie sie in aktuellen Filmen und Fernsehserien gang und gebe ist, auch eine utopische Version der Zukunft gegenüber gestellt wird, erklärt Lion:
„Es war ein Wunsch von uns, von Ingrid [Ingrid Lang, Anm.] und mir. Wir haben in langen Gesprächen mit Phillipp gesagt: ‚Das hunderste dystopische Stück …‘“, Lion gibt ein leichtes Schnauben von sich und erklärt dann weiter: „Es gibt natürlich sehr kluge, dystopische Visionen, wenn man sich beispielsweise Black Mirror anschaut, aber wir wollten nicht nur eine Dystopie verbreiten.“
Über die Faszination der Menschen für Dystopien sagt Lion: „Ich glaube, die Dystopie ist deshalb so stark, weil sie beruhigt. Wenn man sich anschaut, wie in einem Emmerich-Film die UFOs fliegen, und dann aus dem Kino hinausgeht, ist man großartig beruhigt, weil’s nicht so ist: Es kommen keine UFOs. Aber sie sind im Unterbewusstsein vielleicht als irrationale Angst da und Emmerich materialisiert sie für zwei Stunden zur Unterhaltung.“ Zunächst überrascht über die Behauptung, dass Dystopien beruhigend sein könnten, klingt sie nach dieser Erklärung, zumindest für mich, durchaus plausibel. Lion erzählt weiter, dass er Utopien als beunruhigender als Dystopien einschätze. Diese Überlegung erklärt Lion am Beispiel des Zionismus, aber auch andere große „-ismen“ des 20. Jahrhunderts könnten man in diesem Zusammenhang betrachten: Übersetzt in die Realität hatten anfängliche Utopien und theoretische Überlegungen oftmals nicht lange mit zuvor ungeahnten Problematiken und erschreckenden Eigendynamiken auf sich warten lassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was ist heute, aber auch (in nicht allzu entfernter) Zukunft noch utopisch? Philipp Weiss‘ Antwort auf diese Frage kann man ab dem 8. Oktober 2019 im Nestroyhof/Hamakom sehen.
Im Gespräch klingt immer wieder durch, dass auch der Nestroyhof/Hamakom quasi als Utopie begonnen hatte – sicherlich aber mit viel Herzblut. Als ich nach dem Ursprung für diese Leidenschaft frage, beschreibt Lion eine tiefgreifende Wertschätzung für diesen Ort: „Es ist so ein Ort, wo’s – wurscht, wennst da reinbringst – jeder riecht sofort, dass es richtig ist, dass es ein Theater ist; Es gibt eine Frage, keine intellektuelle Frage, es ist ein Gefühl, dass man sofort teilt, als Künstlerin oder Künstler.“ Das Sicherstellen, dass dieser besondere Ort wieder zu einem Theater wird, war der Antrieb für eine langwierige Odyssee der Fördermittelbeschaffung: „Bei der ersten Verhandlung mit der Stadt wurde mir gesagt, ich sollte lieber kein neues Theater aufmachen, es gäbe ja bereits so viele in Wien.‘ Da hab‘ ich geantwortet: ‚Ja, aber ihr könnt diesen Raum nicht liegen lassen, das ist euch bewusst. Dieser Ort, der vierzig Jahre zweckentfremdet wurde, hat jetzt die Chance sich wieder zurück zu verwandeln in das, was er einmal war.‘ Und darum ging es mir: Um eine Re-Etablierung des Nestroyhofs.‘“ Schlussendlich – sonst säßen wir an diesem wunderschönen Oktobertag nicht hier – hat die Stadt Wien eingelenkt und dem Nestroyhof/Hamakom, wie Lion erzählt, etwas Geld gegeben und geschaut, wie er nun tut.
Seither sind 10 Jahre vergangen: Aktuell bekommt das Theater Fördermittel in der Höhe von 470 000 Euro von der Stadt Wien und 30 000 Euro vom Bund. Zum Budget merkt Lion an, dass etwa die Hälfte in Fixkosten – Miete, Gehälter, Instandhaltung, etc. – und die andere Hälfte in die Kunst fließt. Über die mangelnden Informationen zu Fördermittelentscheidungen äußert sich Lion schlicht frustriert: „Jedes Mal, wenn ich bisher ein Konzept für die Förderung geschrieben habe, habe ich ein vernünftiges Budget angegeben und jedes Mal wurde das Konzept gelobt und auch unser Erfolg – und drei Wochen später wurde die Budgetsumme einfach um dreißig Prozent gekürzt.“ Die Gründe dafür werden nicht kommuniziert, aber so geht es ja nicht nur dem Theater Nestroyhof /Hamakom.
Sowohl von Seiten der Kunstschaffenden, als auch der Medien und der Politik werde nur über die Höhe des Budgets gesprochen, es ginge aber auch darum, wie ein Theater produziert: „Wie ist die ökonomische Haltung von einem Theater zur Arbeit? Wie viel verdienen beispielsweise die Schauspielerinnen und Schauspieler? Sind sie angestellt oder haben sie einen Werkvertrag?“, formuliert Lion Fragen, die mehr diskutiert werden sollten.
Anschließend an die „moderate Schimpferei“, wie Lion seine Äußerungen rund um die Förderlage schmunzelnd nennt, fügt er aber erleichtert hinzu: „Aber ich bin Gott sei Dank kein Kulturpolitiker, da hätte ich keine guten Nächte, das ist ein harter Job. Man arbeitet da in einem Feld der Leidenschaft und der Utopisten und da muss man dann aber immer wieder auch echt harte Entscheidungen treffen.“ Lion hält einen Moment inne und ergänzt dann noch schulterzuckend: „Aber Politik ist Entscheidung.“
Unser Gespräch schweift noch einmal zur Zeit vor dem Nestroyhof/Hamakom ab, als der heutige Aufführungssaal noch unter dem Namen „Nestroy-Säle“ sporadisch von verschiedenen Künstler_innen bespielt worden war. Auch Lion inszenierte dort. „Es gab keine Heizung, also sind wir da gestanden mit den Gaskartuschen: In den Pausen ist die Temperatur auf 17 Grad gefallen und wir haben gesagt: ‚Jetzt müssen wir die Pause zumindest so lange machen, dass es zumindest wieder 23 Grad hat.‘ Kein Schmäh. Da sind wir da gestanden, zu sechst, mit den Gaskartuschen.“ Lion lacht beim Erzählen dieser Anekdote herzlich.
Mit dem Vermietungsangebot der Eigentümer und Lions Zustimmung hat schließlich die Geschichte des Nestroyhof/Hamakoms an Fahrt aufgenommen. „Herzblut war da schon immer dabei.“.Nach einer kurzen Pause fügt Lion noch hinzu: „Wohl auch immer ein bisschen Galgenhumor.“ Von Tag 1 an war es Lions erklärtes Ziel das Theater so weit zu etablieren, „dass nicht mehr wieder diskutiert werden kann, ob’s nicht doch wieder ein Supermarkt wird. Das find‘ ich, ist ein Kampf wert gewesen.“
P.S.: Die meiste Zeit hat uns Chester, der Hund von Lion, auf der Terasse Gesellschaft geleistet und die Sonne genossen – oder an den Pflanzen herum geknabbert: Einfach nur herzig <3