Neue Oper Wien /// 11. April 2023 /// Kapitän Nemos Bibliothek
Die Frage nach der Möglichkeit zu Verstehen stellt der Ich-Erzähler im Epilog von Per Olov Enquists Roman Kapitän Nemos Bibliothek (1991). Die Inszenierung an der Neuen Oper Wien bietet keinen einfachen Zugang, bleibt aber gerade damit nah an ihrer Vorlage.
Ein nordschwedisches Dorf in den 1930er-Jahren. Als Ich (Ray Chenez) und sein Freund Johannes (Ewelina Jurga) sechs Jahre alt sind, stellt sich heraus, dass sie bei ihrer Geburt vertauscht wurden. Das bis dahin wohlbehütet bei seiner Mutter Josefina aufgewachsene Ich wird in die am Rande der Dorfgemeinschaft stehende Familie von Johannes zurückgegeben. Dieser wiederum bekommt mit Josefina die dem Ich entrissene Mutter. Als die ältere Adoptivschwester Eva-Lisa (Misaki Morino) hinzustößt, entfaltet sich eine traumatische Auseinandersetzung mit kindlicher Fantasie, elterlicher Moral und der Frage danach, was bleibt, wenn nur der Ort unserer Geburt uns zu den Menschen machen soll, die wir sind.
Das aus kleinen Papphäusern zusammengesetzte Bühnenbild und Kostüm von Hana Ramujkić fängt dabei die kindliche Wahrnehmung in der Erinnerung des erwachsenen Ich-Erzählers (Andrija Repec) auf verstörende Weise ein. Der Pastor (Wolfgang Resch) und die Mutter (Elena Suvorova) mit absurd hohem Hut türmen sich riesenhaft vor der Kulisse auf, derweil Eva-Lisa (Misaki Morino) von der zu kleinen Kulisse förmlich erdrückt wird. Anders als die Darsteller*innen passen die Puppenduplikate von Ich und Johannes perfekt in diese beklemmende Kulisse hinein. Nicht nur die Proportionen stimmen: Ihre Bewegungen, gespielt von Andrea Köhler, Melanie Möhrl und André Reitter, wirken fließend und lebendig. Das Ganze hat etwas von Tim Burton, funktioniert aber und verwischt die Grenze zwischen Kinderfantasie und äußerer Wirklichkeit auf der Opernbühne.
Die Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung greift Johannes Kalitzkes Musik auf. Für die Erzeugung eines atmosphärischen Klangraums verzichtet er auf Melodien und wiedererkennbare Leitmotivie. Dirigiert von Walter Kobéra erzeugen charakteristische Holzbläser einen getragenen, mystischen Klangraum, der von einer untypischen Besetzung mit Akkordeon und Sampler zuweilen folkloristisch, zuweilen stotternd und kreischend gebrochen wird.
Durch die Arbeit der Librettistin Julia Hochstenbach ist die Handlung selbst ohne Textkenntnis nachvollziehbar. Einzelne Motive sorgen allerdings auch mit Textkenntnissen für Verwirrung. Die Tiermetaphorik lässt sich weder in die Szenerie noch in die Handlung der Operninterpretation so recht einfügen. Führt sie im Roman Enquists zurück in den Themenkreis der Differenz von Menschen und Individuum, bleibt sie auf der Opernbühne eher funktionslos stehen.
In der Operninszenierung von Kapitän Nemos Bibliothek an der Neuen Oper Wien wird das Fragment zum umfassenden Kompositionsprinzip. Musik, Text und Erinnerung zerfallen in kleine Stücke. Wie der Roman bietet auch die Oper am Ende kein abgeschlossenes Werk. Sie lässt das Publikum mit der Aufgabe des Ich-Erzählers zurück eigenständig „zusammenzufügen“.
KAPITÄN NEMOS BIBLIOTHEK
Musik: Johannes Kalitzke
Libretto: Julia Hochstenbach
Wiener Erstaufführung | Basierend auf Per Olov Enquist: Kapitän Nemos Bibliothek
Mit: Ray Chenez, Ewelina Jurga, Elena Suvorova, Wolfgang Resch, Misaki Morino | Puppenspieler*innen: Andrea Köhler, Melanie Möhrl, André Reitter | Künstlerische Leitung: Walter Kobéra | Inszenierung: Simon Meusburger | Bühne & Kostüm & Video: Hana Ramujkić | Puppenbau: Claudia Six | Klangregie und Live-Elektronik: Christina Bauer | Lichtdesign: Norbert Chmel | amadeus ensemble-wien
Mehr Informationen hier:
https://neueoperwien.at/kapitaen-nemos-bibliothek/
Fotos: © Armin Bardel