Der junge Mann von Annie Ernaux aus dem Französischen von Sonja Finck ///Österreichische Erstaufführung /// Koproduktion mit Pistoletta Productions /// 18. März 2025 /// Kosmos Theater
Annie Ernaux erzählt in ihrem Buch Der junge Mann von einer Affäre zu einem 30 Jahre jüngeren Mann. Diese Begegnung wird zu einer Erinnerung an die Vergangenheit und somit an die eigene soziale Herkunft, an Vergewaltigung und Abtreibung.
Was im Kosmos Theater gezeigt wird, ist aber deutlich mehr als dieser Text, dort feierte man vielmehr eine (kleine) Hommage an die Nobelpreisträgerin. Regisseurin Elisabeth Gabriel und ihr Team schufen eine schlüssige Montage aus Texten Ernauxs, die prima auf der Bühne funktioniert. Die Qualität des Abends liegt dabei im Disput der Ich-Erzählerin mit ihrem jüngeren Alter Ego über die Erinnerung an das eigene Leben. Wer behielt damals (und behält in der Erinnerung) die Deutungshoheit über dieses Leben? Intertextuell verwoben widmet sich der Abend den aus Ernauxs Texten bekannten Themen: Scham, Schmerz, Klasse, Erinnerung und Alter. Fans der Schriftstellerin kommen definitiv auf ihre Kosten!
Cristina Milea legt das Bühnenbild klug an, indem sie zwischen Decke und Boden durchschimmernden Nylonstrupmfstoff spannen lässt. Wie in Die Jahre leuchten auf dem Stoff Bilder aus der Vergangenheit auf (Video: Angela Christlieb), werden von den Schauspielerinnen betrachtet und verblassen wieder: Das Portrait einer jungen Frau, eine Schulklasse, … Der Stoff schafft eine warme, aber auch fragile Atmosphäre auf der Bühne. Einerseits kann sich das jüngere Alter Ego wie zur Wiedergeburt, einer Raupe gleich, in den Stoff wickeln, andererseits kann der dünne Stoff leicht bewegt und der Bühnenraum (der ja zugleich Erinnerungsraum ist) neu strukturiert werden. Mit einem Tisch, an dem die Ich-Erzählerin zu Beginn Platz nimmt, und einem Stapel Bücher sind auch die Elemente von Ernauxs Erinnerungsarbeit präsent.

Die Lebensgeschichte wird sehr einfühlsam von Johanna Orsini (Ich-Erzählerin) und Lili Winderlich (jüngeres Alter Ego) erzählt. Die beiden Schauspielerinnen schaffen es wunderbar, zwischen dialogischen Spielpassagen und sozialanalytischen Momenten in Ernauxs Texten zu changieren, ohne dass die verschiedenen Modi von Ernauxs Schreiben in den Wechseln auseinanderfallen würden. Besetzungstechnisch gelungen: In der Erinnerungssituation kommen sie ganz ohne den titelgebenden jungen Mann aus. Es ist der Moment, in dem sie um die Erinnerung ringen, aber mit sich selbst, während er nur noch Vergangenheit ist.
Die Inszenierung wird neben den Schauspielerinnen wesentlich von Teresa Rotschopfs Komposition und Gesang getragen. Live agiert sie im Hintergrund am Mischpult und untermalt das Schauspiel mit rhythmischen Klängen und kraftvoller, sauberer Stimme. Es scheint, als würden sich dadurch nochmal andere Welten der Erinnerung öffnen, die über die Sprache und die Bilder hinausweisen (die Ich-Erzählerin räsoniert auch an einer Stelle über die Erinnerung an Lieder, die sie mit ganz bestimmten Erlebnissen in Verbindung bringt) … Für dieses Erlebnis reicht es definitiv nicht aus, Ernaux zu lesen. Dafür muss man ins Theater!
DER JUNGE MANN
Textfassung & Regie: Elisabeth Gabriel | Bühne: Cristina Milea | Kostüm: Ingrid Leibezeder | Video: Angela Christlieb | Komposition & Live-Musik: Teresa Rotschopf | Produktionsleitung: Magdalena Stolhofer | Mit: Johanna Orsini, Teresa Rotschopf, Lili Winderlich
Fotos: © Bettina Frenzel