Odeon Theater /// 14. Mai 2019 /// aCORdo
Sie sind exotisch, sie sind bunt und sie sind auf fast jeder Postkarte von Rio de Janeiro zu sehen: Die brasilianischen Favelas. Doch sie sind mehr als eine Sehenswürdigkeit, die man als Touri-Attraktion für die Fotolinse missbraucht– Favelas sind das Sinnbild sozialer und gesellschaftlicher Hierarchisierung des gigantischen Landes Brasiliens.
Das Leben in den brasilianischen Randsiedlungen, wo abseits des schillernden Zentrums Rios der schwarze Bevölkerungsteil unter sehr armen und prekären Bedingungen lebt, macht sich die Choreographin Alice Ripoll zum zentralen Gegenstand der Performance aCORdo. Vier Interpreten* zeigen wie Lebensfreude und Lebensenergie mit Machtstrukturen –Überwachung, Korruption und Diskriminierung– kollidieren.
Traditionelle Tanzelemente bis zu apathischen Zuckungen am Boden konstruieren eine gewisse Dualität zwischen Oben und Unten, welche sich auf die hierarchischen Gesellschaftsstrukturen und die ungleiche Machtverteilung in Brasilien übertragen lässt. Keine außergewöhnlichen Akrobatikelemente, keine Ausstattung oder aufwendigen Kostümen zieren die Performance. Der musikalischen Begleitung wurde eine klare Absage erteilt, im Fokus stehen reine Bewegungselemente, die in Verbindung mit der konstanten Stille eine erstaunliche Intensität gewinnen.
In Bezug auf ihre Arbeit entpuppt sich die brasilianische Choreographin als Verfechterin der Psychoanalyse, indem sie die Interpreten nach der freien Assoziation arbeiten lässt und einen großen Freiraum in ihrer Darbietung gewährt (mehrere Informationen zu den Arbeitsmethoden von Alice Ripoll sind im Programmheft aCORdo der Wiener Festwochen auf S. 4 zu entnehmen). Das Endprodukt ist ein harmonisches Zusammenspiel der Interpreten, das fließende Körperdynamiken und pulsierende Rhythmen entstehen lässt.
Es ist das geringe Sitzplatzangebot, aber auch die Tatsache, dass die Zuschauer_innen u-förmig um die bespielte Fläche sitzen, sodass eine besondere Intimität zwischen den Zuschauer_innen und Interpreten geschaffen wird. Die unmittelbare Nähe der Zuschauer_innen zu der Performance geht im weiteren Verlauf in eine aktive Teilnahme über, womit letztendlich auch die Besucher_innen zum Teil der Aufführung werden und im Spiel zum_r Zeuge_in von Kriminalität und Polizeigewalt werden.
Seht es euch an, erlebt es mit, und nähert euch einem Stück der Alltagsrealität der Einwohner_innen in den brasilianischen Favelas – die doch so fremd und fern für uns ist – aber in Alice Ripolls Choreographie zum Greifen nahe scheint.
Fazit: Es ist das Schaffen eines politischen Bewusstseins in Bezug auf gesellschaftliche Randgruppe in Brasilien, was zu dem Hauptanliegen von aCORdo wird. Kurzweilig, konfrontativ und eindringlich werden den Besucher_innen in Ripolls Choreographie Missstände der Favelas widerspiegelt.
* Alice Ripoll bevorzugt den Begriff Interpret_in anstatt Darsteller_in. Es handelt sich um vier männliche Performancekünstler, aufgrund dessen wird ausschließlich die maskuline Form von Interpreten verwendet.
aCORdo
Regie: Alice Ripoll
Interpreten: Alan Ferreira, Leandro Coala, Romulo Galvão, Tony Hewerton
Assistenz: Anita Tandeta
Foto, Video: Renato Mangolin
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Bildrechte: © Renato Mangolin