TEIL 4 DER REIHE “THOMAS KÖCK UND WIEN. DER ANFANG” [REZENSION]
Dem Rekordmeister SK Rapid Wien bei einer sinnlosen Selbstopferung zusehen, in der Halbzeit das Stadion mit vom Zusehen offenen Pulsadern verlassen und so in eine andere Manege der Stadt: das Volkstheater. Zur mit Spannung erwarteten Premiere von Felix Hafner’s Inszenierung des preisgekrönten Textes von Thomas Köck. Fassungslos und tief verletzt bin ich am 12. März auf „Isabelle H.“ gestoßen.
weitere Termine: 22.3. / 11.4. / 16.4. (weitere Termine in Planung)
Ein traurig-hoffnungsvoller Tweet in der U-Bahn auf dem Weg vom Stadion ins Volkstheater. Süße Re-Tweets trösten mich.
Angekommen im Barbereich des VolX-Margareten versuche ich, die emotionale Befangenheit von mir zu schütteln. Jetzt hier unter diesen anderen Menschen – reinhardtseminarmäßige Theaterleute an der Stelle passionierter Fußballfans – kommt mir meine Emotionalität unpassend vor. Ich kann meinen Gefühlsstatus aber nicht ändern und versuche, mich durch mein eigenes Lächeln zu beruhigen. Da wird plötzlich ein Video an die Wand projiziert neben der wir alle stehen und auf den Einlass warten.
Das Video zeigt den Autor, Thomas Köck. Für den Fall, dass man den Text auf einer kleinen Bühne aufgeführt sehe, solle man den Vorfall als Zuwiderhandlung wahrnehmen und beim Autor melden. Dann Gegenschnitte zwischen einem fragenden Thomas Köck und einer antwortenden Isabelle Huppert – der echten, aufgezeichnet während einer Pressekonferenz. Die Idee des Interviews finde ich lustig; die Anweisung, den Text zu melden, überraschend präpotent. Klar, du hast Preise gewonnen, denke ich. Aber dann gleich so noch vor der Premiere – der Premiere des Stückes voran – die große Bühne zu verlangen? Ich weiß, Köck zitiert sich selbst. Er liest den Beginn des Stücks und die große Bühne wird nicht für den Autor Köck, sondern für das Thema eingefordert; für eine ehrlichere Art der theatralen Auseinandersetzung mit den Themen Fremdheit/Identität/Opferung/Grenzen/Europa/Freiheit/Gewalt. Das ist völlig gerechtfertigt. Doch wer den Text nicht vor Beginn der Veranstaltung kennt, weiß das nicht. Vielleicht hätte das besser ein_e Schauspieler_in vorgetragen…
Mit der Aufforderung, an “die Griechen, Europa und Isabelle Huppert” zu denken, betrete ich den Vorstellungsraum. Die Schauspieler_innen scheinen Konzentrationsübungen zu machen. Eine weiße Leuchtstoffröhre hängt parallel zum Publikum über dem mit weißen Plastiktüchern ausgekleideten Innenraum. Konzentrierte Musik, ein Fleischerhaken. Drei Männer, eine Frau. Graue Kleidung, wie das modern ist auf den Straßen der uns umgebenden Welt. Beige Sandsäcke liegen auf dem Boden.
Eine lang- und rothaarige Perücke liegt da wie ein Stück Identität, das darauf wartet, jemanden zu benennen.
Der Benannte und die Behauptete: Fluchterzählung als Identitätsbehauptung
Da stehen nun zwei Menschen auf der Bühne: ein Mann und eine Frau, ein situierter Benannter (mit Herkunft, einem Freund, Biographie und Namen: Daniel) und eine Behauptete über die wir nichts wissen, außer, dass sie angibt die französische Schauspielerin Isabelle Huppert zu sein. Sie erzählt von Kriegsgeschehen als Ort ihrer Herkunft, von Fluchterlebnissen und Gewalt. Doch bleibt die Herkunftserzählung vage. Sie bleibt Behauptung und kumuliert in der Erkenntnis: “[Die Grenzpolizisten] fragen sich maximal, warum spricht die so gut Deutsch?” und – als ob Verleger_innen oder Filmproduzent_innen über eine Story reflektieren –
„Und ich würd sagen, der Dreistigkeit wegen, wen kümmerts, wer spricht, sprech ich hier heute Deutsch.“
Die Verhinderung einer Personalisierung der weiblichen Protagonistin wird unterstützt indem Toneinspieler die Stimme Isabelle Hupperts wiedergeben. Katharina Klar (durchgängig überzeugend und hingebungsvoll widerständisch) bewegt die Lippen dazu. Parallel zur unklaren Positionierung der weiblichen Hauptperson, steht auch ihr männlicher Gegenpart mit unsicherem Anker im Raum. Der Ex-Soldat Daniel erklärt seinem vermeintlichen Opfer Isabelle, wie Schutzbedürftige sich zu benehmen hätten. Wenig später doziert Bastian (Daniels Freund) mit einem I-Phone 6 in der Hand an der Bühnenrampe auf und ab schreitend, wie es Kriegsheimkehrern wie seinem Freund zu gehen habe. Dabei nickt er sich selbstbestätigend zu. Die Daheimgebliebenen wissen mehr.
Es ist schön zu sehen, dass hier nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. (Mit einem Wehrmutstropfen: Der Text klärt am Ende in deutlicher Andeutung Daniels Trauma auf. Da wäre ich gern noch in der Schwebe geblieben.) Mein gebrochenes Herz ist zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht verheilt, doch aber geschickt zusammengenäht. Das Ensemble spielt so schön miteinander und ich – Zuschauerin – darf ihnen einfach zusehen dabei. Woher das Zitat stammt, weiß ich nicht, aber es stimmt: „Theater cures depression.“
Köcks Sprache und der Hafner’sche Griff
Im Interview vor ein paar Wochen (zu Probenbeginn) hatte mir Felix Hafner bereits von den Grenzen, dem Grünen und dem Sand erzählt. Das sprachliche Bild der Grenze wurde auch für das Cover des Programmheftes gewählt und kann also – denk ich – als programmatisch für die Inszenierung gelten.
Von Beginn an empfinde ich Hafners Tempo als mutig. Ein junger Mann und eine junge Frau sitzen auf dem Boden, die Rücken an je einen Sandsack gelehnt, in wenigen Metern Abstand. Sie zünden je eine Zigarette an und rauchen. Das dauert. Und die Spannung trägt. Ich freue mich, dass Hafner so mutig war, das Publikum mit den Figuren in der Lagerhalle warten zu lassen. Je weiter der Abend voranschreitet, desto deutlicher wird mir, dass ‚Mut‘ der falsche Ausdruck ist. Was Hafner zeigt, ist nicht Mut, sondern Können. Er weiß in jedem Moment der Komposition, woher das gegenwärtige Bild kommt und wohin es geht. Die kontrollierte Regiearbeit wirkt dabei nicht erdrückend, sondern als ob sie den Boden liefert, auf dem der Text gesprochen und schaugespielt werden kann.
Köcks Text ist eng geschnitten. Er springt in Zeit und Raum und ich weiß in der ersten Hälfte nicht, ob er in die Vergangenheit, Zukunft oder eine parallele Gegenwart der narrativen Null-Ebene lenkt. Hafner unterstützt mein Bedürfnis nach der ungefähren Sicherheit zu wissen, wo ich bin, durch eindeutige Kostüm- und Spielwechsel. Auch hilft, dass bestimmte Orte im Bühnenraum deutlich bestimmten Handlungsorten zugewiesen sind. Die Rampe etwa gehört den chorischen Rückblenden.
Köcks Sprache seziert. Verben werden ausgelassen und Floskeln ausgestellt:
“Wie läuft’s?” – “Läuft. Bei dir?” – “Läuft.”
geht es etwa zwischen dem heimgekehrten Soldaten und seinem Freund sprachlich ab. Ich muss lachen. Das ist schon sehr lustig, wie die beiden jungen Männer ihre Sprachlosigkeit mit Satzanfängen füllen. Allgemein fällt mir auf, dass nur den Autoritäten in ihren Definitionserzählungen von Köck erlaubt wird, in kohärenten Texten zu sprechen; Texten, die nicht zerrissen, sondern heil sind. Die Autorität ist hier ein Ermittler_innenteam, das im Chor über Leichenstarre, – und ein Team aus Dozent_innen, das chorisch über Posttraumatische Störungen spricht.
Wenn die Aufgabe von Kunst ist, gesellschaftliche Probleme zu benennen, dann hat Köck die Aufgabe mit “Isabelle H.” erfüllt. Er hat der Problematik vorauseilender Urteile und nicht überprüfter Vorstellungen von gesellschaftlichen und physischen Grenzen eine Form gegeben. Zwischen all dem Gestammel sprachsuchender Figuren blitzen Sätze richtungsweisender Klarheit heraus. So weist Isabelle H. schlussendlich die Rolle der Schutzbedürftigen von sich. Als sie aus der dramatischen Situation aussteigt, antwortet Daniel hoch erzürnt:
“Es geht nicht um dich. Es geht um ein Verhalten.”
Und plötzlich geht es um mehr, als um die beiden in der Lagerhalle.
Grüne Grenzen – die Grenzen des/der Grünen
Man muss die Grenzen aufrechterhalten, damit das Grüne rein bleibt und nicht vom Sand beschmutzt wird. So lautet die These, die „Isabelle H.“ zur kritischen Disposition stellt. Als ich ein paar Tage später im Rapid-Beisl von Köcks Grundmetapher erzähle, lächeln meine Fankolleg_innen und heben ihr Bier. Wir denken bei dem Bild des Kampfes um das Grüne und gegen den Sand an Rapid, meine/unsere Rapid, deren Vereinsfarben Grün-Weiß während der Premiere am Volkstheater vom Sand unter den Stollen eines namenlosen Nicht-einmal-mehr-Vorstadt-Vereins derartig beschmutzt wurden, dass ich dem Volkstheater Wien und Felix Hafner unsäglich dankbar bin, hier Schutz gefunden zu haben. Natürlich wissen wir auch in unserer Fanrealität, dass „das Grüne“ nicht außerhalb von Welt stattfindet. Grenzen sind weder im Fußball noch in der Realstaatlichkeit wirklich haltbar wie Linien auf Papier. In Köcks Welt kommt „überall der Sand rein, in jede Ritze“.
Gerade in der Parallelität des Metapherngebrauchs von Fußball und Politik zeigt sich die Schrecklichkeit des derzeit gängigen Sprechens über „Grenzen“. Es gibt Grenzen, die hilfreich sind, weil sie uns Orientierung geben. Als Fußballfans unterwerfen wir uns gern, wir spielen mit der Grenze zwischen „Uns“ und „Ihr“. Doch wir spielen immer noch alle Fußball und am Ende nach dem Spiel geht jede_r unverletzt und kathartisch erlöst nachhause (fingers crossed). Die Grenzen aber, von denen „Isabelle H.“ erzählt, sind Grenzen, an denen Menschen verletzt werden, ihre Würde verlieren und sterben.
Wenn von sogenannten Volksvertreter_innen Begriffe wie „Festung Europa“ als positive Konnotation, als erstrebenswertes Ziel und absurde Herausforderung einer gesellschaftspolitischen „Europameisterschaft“ benutzt werden, ist es die Pflicht denkender Menschen eine Vielstimme zu formen und „Stopp“ zu sagen. Thomas Köck hat mit „Isabelle H.“ einen dramatischen (oder von mir aus post-dramatischen) Ausdruck gefunden, der die Möglichkeit von Grenzziehungen infrage und ihre Absurdität ausstellt. Der Sand dringt in dieser Welt immer weiter vor. Die grenzenlose, grüne Welt zerbröckelt unter Isabelles Monologen.
“Isabelle H. (geopfert wird immer)” hat mich an diesem Abend getragen, wie liebevolle Eltern ein heranwachsendes Kind. Die Bühnenästhetik hat mir Halt gegeben, wenn der Text allein mich verwirrt hätte. Der Text hat mir Sätze wie kleine Kunstwerke und Funktionsweisen von Menschlichkeit vorgestellt. (Zum Beispiel meine Erkenntnis, dass die Aussage “Ich habe Angst vor dir.” nur in der Hand der dominanten Kultur eine Waffe ist. Oder der schöne Satz “Ich schau dich an und verlier dich.”).
An dem Moment, an dem ich mit einem Ansatz von Tränen in den Augen und kriselnder Gänsehaut meine Arme herab schon so nahe an der emotionalen Erruption war, haben Text und Inszenierung unisono mir ebenjene verboten und „Grow up!“ in mein Gesicht geschrien.
Dass es nicht um mich hier als Publikum an einem Abend im Theater geht, sondern um das, was da draußen „in echt“ geschieht und um die Frage, wie man überhaupt über diese unerträgliche Situation der Gegenwart Stücke schreiben kann – das spricht Isabelle H. aus, wenn sie plötzlich ihre Rolle bricht und zur Technik hochschreit, dass man doch endlich diese scheiß Hollywood-Musik ausmachen soll. (Diese Theatersituation sollte man diese Saison gesehen haben.) Das Theater hat mit mir geflirtet bis ich mit ihm nachhause gehen wollte und mich dann – im positivsten Sinn – im Regen stehen gelassen. Die Opferfrau vor mir auf der Bühne löst die finale Gewaltsituation, indem sie einfach nicht mehr mitspielt. In der Bühnensituation ist das möglich und Thomas Köck nutzt die Chance. Sie verlässt den Raum mit den Worten: “Ich hab gar keine Lust, hier jetzt dein Opfer zu sein.”
Während die Ermittler, die seit Beginn das protagonistische Paar verfolgen, immer näher kommen, die Bühne einnehmen und klassisch dramatisch einen Kriminalfall lösen, sitzt die Frau, die Katharina Klar verkörpert, schon auf der Stiege im Publikum – mit Chips in der Hand – wie genervtes Tatortpublikum über den Ermittler und seine Darstellung schimpfend.
Persönliche Schlussnotiz: Ich habe am Weg nachhause wieder das Lied meiner Farben singen können. Ich war dabei nur mehr ein kleines Bisschen traurig, aber nach dem wunderbaren Ausklang dieses Abends weitgehend versöhnt mit der Welt. Danke, Felix Hafner. Danke, Volkstheater Wien. Danke, Thomas Köck. Ich lieb euch trotzdem, SK Rapid.