Volkstheater /// 22. Februar 2023 /// „In den Alpen / Après Les Alpes“ von Elfriede Jelinek / Fiston Mwanza Mujila /// Uraufführung
Intertextuell und kontrapunktisch verwoben – das Volkstheater öffnet, unter der Regie von Claudia Bossard, mit seinem Theaterdoppel „In den Alpen“ von Elfriede Jelinek und „Après Les Alpes“ von Fiston Mwanza Mujila den kosmischen Raum des Schreckens und des Todes durch die Motivik des profitgeilen Alpinismus.
In den alpen
Es ist eine Szene kurz nach dem 11. November 2000. Zu diesem Zeitpunkt sind die 155 Opfer der Brandkatastrophe der Gletscherbahn Kaprun bereits tot – nur drei davon ‚nicht ganz‘. Ein alter Mann, ein junger Mann und ein Kind, weiter werden sie nicht expliziert, gespielt von Stefan Suske, Nick Romeo Reimann und Uwe Robeck, sind Mittler zwischen den Lebenden und den Toten. Sie finden sich in der abgelebt staubigen Talstation der Seilbahn wieder, draußen das Nichts, der verbrannte Erdball, ein Komet oder das schwarze Loch zur Unterwelt, bei ihnen eine Helferin (Anna Rieser), die noch in der Sphäre der Lebenden weilt.
Durch die Fensterscheibe der Talstation ist auch ein Mann zu erkennen, braun gekleidet und wie aus einem anderen Stück geschnitten – es ist der Dichter Paul Celan. Emphatisch expressiv gespielt von Christoph Schüchner, entspringt er in der Tat einer anderen Textwelt: Jelinek, Künstlerin des Intertexts, lässt sequentiell Celans Erinnerungserzählung „Gespräch im Gebirg“ einfließen. Bossards Inszenierung lässt in Celan eine Gegenstimme vernehmen. So sehr er sich figural von den anderen auf der Bühne abhebt, so sehr verkörpert er die Position des Anderen – desjenigen, dem die Alpen verwehrt werden; desjenigen, der vor dem großen schwarzen Objekt, draußen vor der Talstation, völlig fehlplaziert zu sein scheint. Er befindet sich im kosmischen Raum, doch hält diesem souverän stand. Die „geschlossene Gesellschaft“ der Toten unterhält sich zwar nicht mit Celan, dafür aber mit der noch lebenden Helferin, wobei der Begriff ,Gespräch’ zu weit greifen würde. Vielmehr monologisieren die Figuren, gerinnen zu Textflächen, und bringen dabei die Öffentlichkeit an die Oberfläche, die eine Katastrophe wie diese zugelassen hat.
Doch wer sind die ‚wahren‘ Schuldigen dieses Verbrechens? Die Öffentlichkeit? – nein. Die Bahnbetreiber – auch nein. Es ist der Fakir! Der Fakir, weder Tier noch Asket, ist ein Heizwärmegerät, und dieses Heizwärmegerät ist es, das angeprangert wird. Doch ist es selbst ein Opfer! Verstümmelt und missbraucht wurde es, bis es nicht mehr richtig lüften konnte, eine sorglos übergeworfene Skijacke gab ihm den Rest, das Gerät begann zu brennen. Es ist der Zusatztext „Diese Maschine ist unschuldig! Ich klage andre an“ von Jelinek, der von Regisseurin Claudia Bossard mit dem Stück verwoben wird und zugleich, beinahe unmerklich, den Übergang zum nächsten Stück markiert, nämlich „Après les Alpes“ von Fiston Mwanza Mujila.
Après les Alpes
Julia Franz Richter, die mit gekonnt rastlosem Ausdruck gegen Ende des Jelinek-Stücks bereits als flehentlich „Boris“ murmelnde Figur auftritt und den Schwellenübertritt inszenatorisch durch den Gang durch das Publikum kennzeichnet, entwickelt sich im Stück, als ob sie selbst der Vorhölle entstammte, vom unscheinbaren Nebencharakter zur maßlos der Hybris verfallenen Diktatorin Frau Gartner.
„Après les Alpes“ ergänzt die Erinnerungspraxis Jelineks und ihre Anklage der Leugnung der Schuld sowie der nicht enden wollenden Täter-Opfer-Umkehr um einen postkolonialen Blick. Die Alpen erscheinen nun als zunehmend instabiles soziales Konstrukt: Denn was ist, wenn die Berge von heute auf morgen privatisiert und für den Bergbau verkauft werden? Was ist, wenn Frauen, Kinder und Männer des Alpenraumes für den globalen Süden Rohstoffe abbauen? Sind die Alpen dann noch die Alpen? Sedimentschicht für Sedimentschicht wird der Heimatbegriff abgetragen, bis sein Grundgestein, die Profitgier als auch die damit verbundene koloniale Ausbeutung, sichtbar wird.
Ein wirklich bemerkenswertes Detail der Inszenierung liegt in Annalena Fröhlichs Videoarbeit. Sie trägt maßgeblich zur Kontinuität des Raumgefühls zwischen „In den Alpen“ und „Aprés les Alpes“ bei. Die konstellative Verbindung von Theater, Wort, Musik und filmischer Montage machen im Herzen beider Stücke einen Antagonismus offenbar: Das landschaftlich Alpenidyll, durchwedelt von vergnügten Skifahrer*innen, oszilliert immer stärker zwischen mythisch überformter Lebens- und ökonomisch gesteuerter Systemwelt. Filmpoetisch und montagetechnisch wird dieser Effekt durch die Überlagerung von planetarisch anmutenden Objekten erzeugt. Die Zeitperspektive wird gelingend ausgehebelt und ein kosmischer Raum geschaffen, der Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet.
So hinterlässt der Abend, besonders durch seine intermediale Überlagerung von Schauspiel und Film, ein Bild der sich immerwährend wiederholenden Katastrophe. Vor allem aber bleibt da eine Frage: Wie sieht eine Zeit nach den Alpen aus?
IN DEN ALPEN // APRÈS LES ALPES
von Elfriede Jelinek // Fiston Mwanza Mujila unter der Regie von Claudia Bossard | Uraufführung
mit: Nick Romeo Reimann, Julia Franz Richter, Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Christoph Schüchner, Stefan Suske | Regie: Claudia Bossard | Bühne: Elisabeth Weiß | Kostüm: Mona Ulrich | Video und Sound: Annalena Fröhlich | Lichtdesign: Ines Wessely | Ton: Giorgo Mazzi, Sebastian Hartl | Dramaturgie: Jennifer Weiss
Mehr Informationen hier:
https://www.volkstheater.at/produktion/923228/in-den-alpen-apres-les-alpes/
Weitere Termine:
So, 26. März 2023 um 18 Uhr | Fr, 31. März 2023 um 19:30 | Fr, 25. Mai 2023 um 19:30
Fotos: © Marcel Urlaub
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