Eine Makemake Produktion mit dem Verein Odeon, in Kooperation mit dem Theater Nestroyhof/Hamakom und dem Milieu Kino /// Mai 2021 /// Weiter leben nach Ruth Klüger
Vier Stationen und vier Darsteller*innen verarbeiten das Leben der jungen, erwachsenen und Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger (1931-2020) und führen die Zuschauer*in in einem Rundgang durch Teile der jüdischen Wiener Leopoldstadt. Es ist die Erinnerung einer Lebensgeschichte der 30er Jahre, die bis in die Gegenwart und in die persönliche Realität der Zuschauer hineinragt.
Das Stationentheater beruht auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman Weiter leben. Eine Jugend nach Ruth Klüger. Die 1931 in Wien geborene Jüdin, verbrachte ihre Kindheit in Österreich. 1942, im Alter von 11 Jahren, wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter in zahlreiche KZ´s deportiert. Später gelang ihnen die Flucht auf dem Todesmarsch. 1947 emigrierten sie in die USA, wo Ruth Klüger u.a. später als Professorin Germanistik in New Jersey und in Göttingen lehrte. 2020 starb sie im Alter von 88 Jahren.
Die Verarbeitung von Vergangenheit besteht nicht nur aus dem Zurückdenken sondern aus dem Umgang mit ihr in der Gegenwart. – wie jeder Mensch für sich zeitgeschichtliche Erinnerungen mit dem eigenen Leben zu verstehen versucht, um sie mit dem kollektiven Bewusstsein verbinden zu können. Theater ist hierbei ein Ort, an dem Verdrängtes zum Vorschein kommt, gedankliche Räume aufgerissen werden können, um Erzähltes in der Wahrnehmung erfahrbar und (weiter)-leben zu lassen.
Die Zuschauer*innen durchlaufen Stationen in der Geburtsstadt von Ruth Klüger. Durch Videoinstallationen und eine Platzbegrenzung von zwei Personen war dies auch vor Öffnung der Theater möglich. Eine Kultur von Erinnerung, die durch begehbares Material erfahrbar gemacht wird.
An der Bus-Station des Milieu Kinos etwa weist der Darsteller Alireza Daryanavard in der Videoprojektion auf das Kinoverbot für Juden und Jüdinnen hin und baut dabei Gedankenkonstrukte und Assoziationen der Erinnerung auf. Der Gang zur nächsten Station verschafft Zeit individuell zu reflektieren und zu erinnern. Was nehme ich für mich mit? Der selten betretene Keller im Odeon ist kalt und unbehaglich. Nichts außer die widerhallende Musik und zwei verloren aussehende Stühle in der Mitte des Kellergewölbe begrüßen die Zuschauer*innen. Die Station schildert die Häftlingsselektionen in Auschwitz und weist dabei sprachlich detailliert auf die Bedeutung der Ungenauigkeit von Zeitgeschichte hin. Sie wird aufgearbeitet, aber vor allem vermischt sie sich mit dem eigenen Leben. So sprechen nicht nur durch die Videobotschaften die Geister der Vergangenheit zu uns, sondern auch durch den historischen Raum selbst.
Ein hochaktuelles Stück, das ursprünglich als Stationentheater mit Präsenzaufführungen geplant war. Nicht nur die allgegenwärtige Präsenz der Pandemie selbst wird durch die Neukonzeption des Stückes in den vier Stationen deutlich, sondern auch eine Einsamkeit, die durch die verlassenen Räume und die Abwesenheit der Darsteller*innen verstärkt wird. Somit wird auch die Isolation von Ruth Klüger selbst spürbar: Ihre Isolation von anderen, darunter auch von ihren eigenen Söhnen, zu denen sie teilweise keinen Zugang fand. Die Abwesenheit eines roten Fadens und die Verweigerung eines geradlinigen Handlungsstrangs in den Stationen eignet sich für die Thematik der Erinnerung, die ja auch im Alltag diffus ist. Die Stationen in sich und in Relation zueinander weisen keine Chronologie auf. Doch zeitweilig sehnt man sich nach ihr. Besonders in der Station im Theater Nestroyhof/Hamakon findet die Verwischung der Ereignisse ihren Höhepunkt, indem Erzählstränge und Perspektiven zusammenfließen. Was wurde gerade erzählt? Durch die Überlagerung der unterschiedlichen Erzählungen verblasst teilweise die Erinnerung an die anderen Stationen. Ruth Klüger wird als eine ungreifbare Figur porträtiert, als jemand, der für viele stehen kann. Als ein Gespenst der Vergangenheit, das in Erinnerung weiterleben soll. Durch den Kreislauf der Stationen und die Abwesenheit einer Chronologie wird in “weiter leben” Unabgeschlossenheit erzielt. Zeitgleich werden die Handlungsstränge unentwirrbar durch das Verschwimmen von Gegenwart und Vergangenheit, die ganze Erinnerungs-Bruchstücke zur Folge hat. So wie Gedankenkonstrukte auch in einem jeden von uns herrschen.
Kritik: Norma Eggenberger, Johanna Krause