Volkstheater Wien // 07.Dezember 2023 // Die Inkommensurablen
Das Künstler*innenkollektiv sputnic bringt Raphaela Edelbauers Roman Die Inkommensurablen unter der Regie von Nils Voges in einer neuen Art der Inszenierung zur Uraufführung: Theater, Film und Graphic Novel kulminieren in einem rauschhaften, faszinierenden Kunstwerk, dem “LIVE ANIMATION CINEMA”!
Die Frage jeder Roman-Inszenierung: Wie nah an der Vorlage?
Die Adaption geht mit ihrer Vorlage sehr sanft um. Neue Perspektiven auf die Handlung sind nicht zu erwarten. Der Tiroler Bauernknecht Hans Ranftler (Hardy Emilian Jürgens) kommt am Vorabend des ersten Weltkrieges nach Wien, um die Expertin für “geteiltes Bewusstsein” Helene Cheresch (Gerti Drassl) aufzusuchen. Mit ihr möchte er seine Gabe besprechen: Vorauszudenken, was andere im nächsten Moment sagen werden. Vor ihrer Praxis lernt Hans Klara Nemec (Anna Rieser) und Adam Jesenky (Fabian Reichenbach) kennen. Sie promoviert als erste Frau an der mathematischen Fakultät der Universität Wien, er ist der Sohn einer alten Generalsfamilie und muss am nächsten Morgen nach Serbien an die Front. Die drei jungen Menschen verbringen die Zeit bis zum Verstreichen des deutschen Ultimatums in der aufgewühlten Stadt: Von einer Konzertprobe über Schlägereien, einen Drogentrip, Begegnungen in der queeren Szene, ein nobles Abendessen mit dem Sicherheitsstab bis hin zu vielen philosophischen Gesprächen ist alles dabei! Textlich gibt es nur eine kleine Abweichung, die sich das Regieteam erlaubt: Während Edelbauer rein chronologisch erzählt, wird in der Inszenierung die Handlung zusätzlich von einer psychoanalytischen Sitzung Hans’ bei Helene gerahmt. Mit diesem Gespräch scheint eine der wesentlichen Fragen des Romans fokussiert zu werden – in welchem Verhältnis stehen Realität und Fiktion, wenn die Massenpsychose einer Gesellschaft hinzukommt?
“Das Kollektiv denkt immer nur in Bildern”
Helene Heresch klärt Hans und das Publikum auf: Das Unwirkliche werde in der triebhaften, reizbaren Masse so echt wie das Reale. Eine große Idee, als welche der bevorstehende Krieg galt, könne die Gefühle der Masse mit Bildern orchestrieren, “denn das Kollektiv denkt immer nur in Bildern”. So kommt es, dass eben Bilder zentrales Element der Inszenierung sind. Auf der Bühne sind weiße Lamellenvorhänge als flexible Leinwände aufgehängt, die geometrischen Formen folgen (Bühne: Michael Wolke). Auf der Rampe stehen vier umgerüstete Overhead-Projektoren, die das Künstlerkollektiv “Tricktische” nennt. Die Tricktische sind mit unzähligen Animationsplatten ausgestattet, welche die in blaue Arbeitsoveralls gekleideten Schauspieler*innen auf die Projektoren legen und so Bilderwelten auf den Vorhängen entstehen lassen können (Kostüme: Friederike Wörner). Wie für eine Graphic Novel haben der Illustrator Karl Uhlenbrock und der Animationskünstler Michael Dölle damit Zauberhaftes geschaffen. Allerdings nicht für ein gedrucktes Buch, sondern die große Bühne! Die Zuschauer*innen können sich von dieser Illusion berauschen lassen und doch die realen Umstände ihrer Produktion im Blick behalten.
Der Sound der Zeit – nur welcher?
Zum Gesamteindruck dieses vielfältigen Erlebnisses trägt auch der Sound bei. Der Komponist Fiete Wachholtz schafft mit seinem Team einen immersiven Klangraum für das Publikum. Die Massen in den Straßen der Stadt sind überall, die Lokomotive fährt hörbar am Gleis von links nach rechts ein. Die Sounds sind jedoch keine reine Reproduktion eines ‘Sounds von 1914’. Wie der Roman kein rein historischer Roman ist, greift auch die Musik in die Gegenwart. Im von Hans, Klara und Adam besuchten Club ‘Trabant’ läuft Musik, die auch heute in einem solchen Club laufen könnte, und während der Konzertprobe von Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett bekommt man eine innovative Adaption zu hören. Die Musik steht an einer schwer zu bestimmbaren Schwelle zwischen 1914 und 2024, dem Jahr, in dem der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 110 Jahre zurückliegen wird.
Schwellen
Raphaela Edelbauer betont, dass ihr Buch bewusst “von dem Augenblick vor dem Ausbruch des Krieges – einem Schwellenereignis” handelt. Es gehe nicht um die Folgen des Krieges, sondern den Moment, in dem noch viele Möglichkeiten offen sind und die “Leute den fatalistischen Untergang, den sie heraufbeschworen hatten, selbst noch nicht begriffen haben.” Den konservativen Generälen steht beispielsweise die selbstbewusste und junge Klara Nemec gegenüber. Diesen inhaltlichen Schwellen wird auch die Ästhetik der Inszenierung gerecht. Den alten Overheadprojektoren stehen die teilweise KI-generierten Bilder der Graphic Novel gegenüber. Das Abendessen bei Familie Jesenky changiert zwischen altem Gemälde (von hinten auf die Lamellen projiziert) und einem Hörspiel (die operierenden Schauspieler*innen sind hinter den Lamellen nur als Silhouetten sichtbar und viele Figuren werden zusätzlich vom Band eingespielt). In welche Richtung die Schwelle jedoch übertreten wird und welche Folgen das hat, bleibt in allen Fällen unklar. Besonders in Bezug auf heutige politische Entwicklungen oder Fragen nach der weiteren Entwicklung künstlicher Intelligenz ist die Inszenierung damit höchst aktuell und gibt auch dem Roman künstlerisch eine tiefere Dimension.
Eine Schwelle, die holpert…
Zwei Stunden lang wechselt die Inszenierung also gekonnt zwischen unterschiedlichsten künstlerischen Mitteln. Im Theater stellt sich am Ende aber doch die Frage: Gibt es noch “echte Spielszenen; Theater, Figuren in Situationen?” Ja, aber sie schwächeln. Als die drei Freunde in die Kanalisation hinabsteigen, um bei den Ärmsten der Armen Adams uneheliches Kind aufzusuchen, bahnen sie sich ihren Weg durch die Publikumsreihen. Das ist ein wunderbar unterhaltsames Schauspiel in Reinform. Die Animationen stehen still. Bei einer Gewaltszene im ‘Trabant’ greifen Animation und Schauspiel wiederum perfekt ineinander. Die Projektion zeigt den Kellerraum des Clubs und einen jungen Mann, der sich mit Adam streitet. Fabian Reichenbach beschimpft den projizierten Mann auf der Bühne, als wäre er tatsächlich vor ihm und tritt ihm brutal ins Gesicht. Auf der Projektion erscheinen Blutflecken, weil eine der Schauspielkolleginnen rote Flüssigkeit auf die Antimationsplatte tröpfelt. Das Bild ist stimmig. Animation und Schauspiel ergänzen sich mit der Diversität ihrer künstlerischen Vermittlungsmöglichkeiten gegenseitig. An anderer Stelle zeigt die Projektion die Figur des Hans einsam und nachdenklich, während Hardy Emilian Jürgens, ebenfalls als Hans, etwas verloren vor der Projektion steht. Anstatt über das Schauspiel eine Ebene der Empfindung hinzuzufügen, wird hier der Roman jedoch nur zweifach bebildert… der Schauspieler kann, so talentiert er ist, der starken Grafik und dem Sound kaum etwas durch eine “echte Spielszene” hinzufügen. Vielleicht hätte die Regie ihn an solchen Stellen einfach am Overhead-Projektor als technischen Bediener stehen lassen sollen.
Virtuose Rollenwechsel
Die zahlreichen Nebenfiguren des Romans werden (trotz kleiner Besetzung) auch im Theater beibehalten. Folglich wechseln die vier Schauspieler*innen in den Hauptrollen ständig nicht nur die Animationsplatten, sondern auch ihre Rollen. Die Wechsel vollziehen sich vor allem durch Verstellungen der Stimme und Sprechweise, manchmal auch durch Gesten und Mimik. Das sorgt für Dynamik und viele Lacher im Publikum, weil die Rollen, damit sie unterschieden werden können, sehr typisiert gespielt werden müssen. Besonders Gerti Drassls Virtuosität und Dialektfähigkeit sind auf höchstem Niveau! Manch andere Kolleg*innen versprechen sich während des Abends hingegen immer wieder. Die herausfordernde Bedienung der Technik lässt ihnen leider zu wenig Platz zum Spielen und guter Rollenentwicklung.
Live Animation Cinema
Wer den Roman Die Inkommensurablen als eine gewaltige Mischung an der Schwelle von Theater, Film, Graphic Novel, Realität und Fiktion erleben möchte, sollte diese Aufführung unbedingt besuchen. Sputnic leistet hier gute künstlerische und koordinative Arbeit. Die Geschichte des modernen Theaters wird mit dieser Art der Produktion weitergeschrieben und bereichert die österreichische Theaterwelt. Während des langen Applauses wird ein filmartiger Abspann mit allen Beteiligten projiziert. Dieser Filmabspann verdeutlicht auch am Ende: Es war ein außergewöhnlicher Theaterabend.
DIE INKOMMENSURABLEN
Uraufführung
von Raphaela Edelbauer in einer Bühnenfassung von sputnic / Nils Voges
Helene Cheresch u.a.: Gerti Drassl | Hans Raftler u.a.: Hardy Emilian Jürgens | Klara Nemec u.a.: Anna Rieser | Adam Jesenky u.a. Fabian Reichenbach | als Stimmen beim Dîner im Palais Jesenky: Andreas Beck, Christoph Schüchner, Stefan Suske, Günther Wiederschwinger | Sängerin in der Schönberg-Adaption: Hasti Molavian | Regie: sputnic/Nils Voges | Bühne: Michael Wolke | Kostüm: Friederike Wörner | Komposition: Fiete Wachholtz | Illustration: Karl Uhlenbrock | Head of Animation: Michael Dölle | Ton: Stefan Feheregyhazy | Video-Art: Lisa Rodlauer | Lightdesign: Ines Wessely | Dramaturgie: Alexander Kerlin
Mehr Informationen und Termine:
Volkstheater | Die Inkommensurablen
Fotos: ©Marcel Urlaub