Schauspielhaus Wien /// 13. November 2019 /// Im Herzen der Gewalt
Édouard Louis’ autobiografischer Roman Im Herzen der Gewalt zeigt die Ohnmacht eines Individuums gegenüber den Machtstrukturen der Gesellschaft. Eine erschütternde Erinnerung daran, dass es eine Kluft zwischen der Welt gibt, in der wir leben und jener in der wir gerne leben würden.
Édouard war schon seit zwei Jahren nicht mehr in dem nordfranzösischen Dorf, wo er aufwuchs. Die Rapsfelder, die Front National Plakate, hasst er; seine Familie, seine Schwester Clara, sieht er nur selten. Sogar Weihnachten feiert er nicht zu Hause. Sein neuer Lebensentwurf in Paris, fern von seiner Familie, fern von seinem alten Ich, wird am Weihnachtsabend erschüttert: Ça va? Feierst du nicht Weihnachten? Édouard lernt auf dem Heimweg einen Mann, Reda, kennen und nimmt ihn mit in seine Wohnung. Sie verstehen sich. Sie haben Sex. Als Reda plötzlich die Waffe auf ihn richtet, fragt Édouard sich nicht mehr ob, sondern nur wie er sterben wird.
Édouard hat nicht das Vorrecht über seine eigene Geschichte. Er steht hinter der Tür. Er hört zu, wie seine Schwester Clara die Morddrohung, die Vergewaltigung – in fast schadenfroher, Ach ich hab’s dir ja gesagt, Art – schildert. Seine Familie akzeptierte immer, dass er „anders“ ist, schwul ist, erzählt die Schwester. Sie lügt, kommentiert Édouard. Édouard hört auch zu, wie die Polizei seinen Angreifer als maghrebinischen Typus, beschreibt. Die Anzeige kann er nicht mehr zurückziehen – der Vorfall liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Édouard verliert die Kontrolle über seine Erinnerungen; die anderen erzählen sein Leben. Oft lacht das Publikum: die Komik, mit der Tomas Schweigen die Inszenierung versehen hat, rückt die Szenen in eine Absurdität und unterstreicht so gekonnt, wie Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist.
Édouards Narrativ ist fremdbestimmt. Während er in ein krampfhaftes Erzählen verfällt, um das erlittene Trauma zu verarbeiten, bestimmen gesellschaftliche Machtstrukturen seine Geschichte. Und nicht nur seine Geschichte, sondern auch die von Reda. Denn nicht er selbst, sondern die Gesellschaft –Rassismus und das Klassensystem– haben Reda zum Gewalttäter gemacht.
Diese Machtlosigkeit des Individuums zeigen die Schauspieler*innen ausdrücklich auf der Bühne (hervorragend gespielt!). Die Rollen werden getauscht; alle Darsteller*innen spielen Édouard; alle erzählen seine Geschichte. Es wird klar, wie beliebig es ist, wer in welches Leben geboren wird und wie rigide Gesellschaftsstrukturen dann dieses Leben auch vorgeben.
Fazit: Eine gelungene Dramatisierung des Romans, die darum ringt, wer Dir sagt wer Du bist und wer Du (nicht) sein kannst.
IM HERZEN DER GEWALT
Nach dem Roman von Édouard Louis
In einer Bühnenfassung von Tomas Schweigen & Tobias Schuster
ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG
Regie: Tomas Schweigen | Bühne: Stephan Weber| Kostüme: Anne Buffetrille | Schauspiel: Clara Liepsch, Steffen Link, Josef Mohamed | Dramaturgie: Tobias Schuster | Musik: Jacob Suske | Regieassistenz: Christina Ulrich
Fotos: © Matthias Heschl