Vestibül /// 10. Februar 2024 /// Muttertier
Im Vestibül bringt das Regieteam um Mia Constantine den beim Retzhofer Dramapreis 2023 ausgezeichneten Theatertext Muttertier von Leonie Lorena Wyss leichtfüßig zur Uraufführung. Es geht um Tod, Mutterschaft, Kindheit und die Perspektiven von drei Schwestern (“der Großen, Mittleren und Kleinen”) auf diese wichtigen Themen.
Kinderspieleland am Rande des Todes
Johann Brigitte Schima füllt das kleine Vestibül mit einem Bühnenbild aus, das an den Eingang zu einem Kinderspieleland erinnert: Es ist knallig gelb, mit bunten Leuchtstreifen und Nischen, die zum Verstecken einladen – allerdings vermitteln die seitlich angebrachten, türkisenen Jalousien und die klaren Formen der Konstruktion auch den Eindruck eines modernen Krankenhauses. Die kleinen Bänke sind nicht nur Warteplätze für die Wasserrutsche, sondern auch für das Krankenzimmer, in dem eine sterbende Mutter, das Muttertier, liegt. Die drei Schwestern stehen um ihr Bett herum, hören den Lauten der Beatmungsmaschine zu und erinnern sich: An die Fischstäbchen, die Mutter immer zubereitet hat, das Bitten um einen Ausflug ins Schwimmbad, endlich den Ausflug selbst, die Titanic-Filmabende und vieles mehr.
Erinnerung: Alleine und Gemeinsam
Dem packenden, vielschichtigen Text von Leonie Lorena Wyss folgend, erinnern sich die drei kollektiv; sie sprechen chorisch, tollen lachend über die Bühne und erfreuen sich an ihrem schwesterlichen “wir”, das den Tod der Mutter erträglicher zu machen scheint. Dann stehen sie aber auch alleine, sprechen Monologe und geben ihrer ganz eigenen Beziehung zur Mutter einen tiefen Ausdruck. Unter der filigranen Orchestrierung von Mia Constantine (Regie) glänzen Laura Dittmann, Claudia Kainberger und Lara Sienczak in ihren Rollen! Der Regisseurin ist es wunderbar gelungen, den Text als Angebot anzunehmen und ihn auf der Bühne weiterzuentwickeln: Das wechselnde Tempo, die Monologe und das chorische Sprechen, der Gesang, die Lautstärke, die Klänge, jedes Wort sitzt. Die Schauspielerinnen verzaubern das Publikum mit Passagen, die manchen Zuseher*innen die Augen feucht werden lassen – mal aus sich tief lösender Traurigkeit, dann wieder aus hervorbrechender, kindlicher Freude.
Mutterschaft
Die Krankheit und der Tod der Mutter sind Anlass, darüber nachzudenken, was eine Mutter eigentlich zur Mutter macht. War sie, die eigene Mutter, vor der Geburt auch noch so verspielt und leicht unterwegs wie wir?, fragt eine der Schwestern. Wer macht eine Mutter zur Mutter? Die Kinder? Die Gesellschaft? Muss eine Mutter ihre Kinder immer lieben? Kann sie das überhaupt? Die Liste an Fragen, die im Text durchscheinen, ist lang. Nicht immer ist das Verhältnis zur Mutter einfach und klar, wie die mittlere der Schwestern im Dämmerschlaf erzählt. Was aber eindeutig ist: Für die Beantwortung der Fragen nach Mutterschaft brauchen die drei Schwestern keine Männer, die nur stören und “doof schauen” würden. Für Jack ist in ihren eigenen Titanic-Spielen kein Platz. Er wird parodistisch nachgespielt und die gesamte patriarchale, heteronormative Gesellschaft gleich mit ihm.
Realität und Spiel
Die Realität des Todes, die tatsächlichen Erinnerungen und das kindliche Spiel verschwimmen in Muttertier unauflöslich ineinander: Aber ob Krankenhaus, Kinderspieleland oder Film… Alles, was man in der Inszenierung im Vestibül zu sehen und hören bekommt, ist mit einer tiefen, emotionalen Wahrheit erfüllt. Dafür gibt es bei der Premiere langen, lauten Applaus!
Das Zitat im Titel verweist auf:
“Dass dieser Stahlkoloss von einem Thema nicht sofort sinkt, obwohl schon von allen Seiten das Wasser eindringt, liegt daran, dass das Stück trotz dieser Schwere eine leichtfüßige Form findet.” (Ferdinand Schmalz, Mitglied der diesjährigen Jury des Retzhofer Dramapreises über den Text)
MUTTERTIER
von Leonie Lorena Wyss
Mit: Laura Dittmann, Claudia Kainberger, Lara Sienczak | Regie: Mia Constantine | Bühne & Kostüme: Johann Brigitte Schima | Mitarbeit Ausstattung: Olga Benkelmann | Musik: Kilian Unger | Licht: Rodrigo Martinez | Dramaturgie: Rita Czapka
Mehr Informationen:
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Fotos: © Karolina Miernik