Volkstheater /// 13.12.2024 /// UA Evergiven. Eine Kipp-Punkt-Revue
“Eine Kipp-Punkt-Revue” mit dem Titel Ever Given kündigte das Wiener Volkstheater an. Regie führt Helgard Haug und inszeniert damit den für das Theater-Label Rimini Protokoll typischen ‘Einbruch der Wirklichkeit’ im Theater. ‘Expert*innen des Alltags’ erzählen in satten 2 Stunden und 30 Minuten fünf wahre und packende Geschichten: Die Flucht von Hana Hazem Arabi aus Syrien; die missglückte Operation und Lähmung von Adham Elsaid; der Umgang mit dem Stottern Marianne Vlaschits und der Werdegang der Eiskunstläuferin Michaela Groch-Fischers. Hinzu kommt die lange Reise einer LED Wand … ja, auch sie erzählt, wie die vier Menschen, ihre eigene Geschichte auf der Bühne des Volkstheaters. Die Geschichte davon, wie sie mit einem Containerschiff (vermeintlich der Evergiven) transportiert wurde und Teil des globalen Welthandels war. Die Themen des Abends sind vielfältig und gehören doch zusammen. Alle vereint das Motiv des Steckenbleibens, des Stockens und der Zirkularität der Krise. Wie es sich für eine Revue gehört, fehlt es dabei weder an Musik, Gesang, noch an artistischen Darbietungen und einer aufwendigen Ausstattung.
Wie anfangen?
Diese Frage stellt sich natürlich, wenn man im Theater, wo es seit Aristoteles um stetiges Handeln geht, vom Stehenbleiben sprechen möchte. “Das Stück hat sechs verschiedene Anfänge und sechs verschiedene Enden – jeden Abend steigen wir in einen anderen Teil innerhalb des Krisenzyklus ein”, erklärt Haug in einem Interview. Für die technischen Gewerke im Hintergrund muss das ein Kraftakt sein, da sie schließlich jeden Abend eine chronologisch andere Inszenierung stemmen müssen! Die Premiere beginnt schließlich mit einem Konzert. Oder vielmehr mit der Zugabe auf einem Konzert, quasi mit dem Ende. Die Band heizt ordentlich ein, das Publikum ist schon fast dabei mitzuklatschen – wäre da nicht das auf einer LED-Kachel gezeigte Gesicht Marianne Vlaschits. Sie schaut ernst, etwas unsicher, vielleicht müde. Nach dem ersten fetzigen Song arrangiert sie den rhythmischen Bruch. Sie beginnt zu sprechen, stottert und: Bringt alles ins Stocken. Doch ist es wirklich ein „Problem“, wenn jemand stottert? Wenn ein Schiff stecken bleibt? Wenn der Wortfluss, der Warenfluss unterbrochen wird? Oder kann die kapitalistische Gesellschaft in ihrem Streben nach „Höher!“, „Weiter!“, „Mehr!“ mit solchen Rhythmuswechseln einfach nicht umgehen? Die These des Abends ist eindeutig – die Welt sollte es mit mehr Stillstand und mehr Geduld probieren. Der Stillstand als Chance und Möglichkeit, aus dem Zyklus der Krise auszusteigen. Neben dem Ernst der Thematik sorgt Vlaschits aber auch für entspannende Lacher. Lässig erzählt sie, wie sie gerne mal einer Schauspielerin beigebracht hätte, richtig zu stottern. Oder welche Angst sie hatte, bei der Inszenierung plötzlich nicht zu stottern (steuern kann man das ja nicht) und paradoxerweise erneut soziale Erwartungen nicht zu erfüllen.
Alles ist Verwoben
Auch die von Barbara Morgenstern hervorragend arrangierte Musik findet einen besonderen Rhythmus. Bei einem der Musikstücke entsteht dieser aus dem Geräusch fallender Wassertropfen, die aus der nassen Jacke Arabis fallen. Immer, wenn ein Tropfen fällt, hat die Band ihren kurzen Einsatz. Der Rhythmus ist so unvorhersehbar wie das Stottern. Die Jacke ist so nass, wie sie war, als Arabi auf seiner Flucht ins Meer musste. In das gleiche Meer, auf dem die Evergiven die gelben Warnschilder “Achtung Rutschgefahr” transportiert hat, die nun die Pfütze auf der Bühne markieren. Auch die Kunsteisplatte für Groch-Fischers wurde auf einem Containerschiff transportiert. Und natürlich hat Elsaid in diesem Meer schwimmen gelernt und dabei die großen Schiffe beobachtet. Das ist nur ein Beispiel, wie die Geschichten ineinander verwoben werden. Requisiten, Kostüme, Bühnenbildelemente und der Text verweisen immer wieder auf die Geschichten untereinander. Das Publikum sieht auf der Bühne die künstlerisch ausgestellte Globalisierung. So dekonstruiert wie die Linearität der Erzählung, so konstruiert ist dabei die Verbindung zwischen den Geschichten.
Fliegen mit der Musik
Viele starke Momente der Inszenierung gründen sich in der Musik. Das Kollektiv “Barbara Morgenstern & the Sea Beats” hat sich eigens für die Produktion formiert. Daniel Weichholz, Peter Breitenbach und die Komponistin Morgenstern sind auf der Bühne präsent, performen tolle Songs und kreieren wunderbare Klangstimmungen. Der im Rollstuhl sitzende Adham Elsaid fragt an einer Stelle, wieso er noch vom Laufen träumen solle, wenn er beim Singen fliegen könne? Klingt (wie manche etwas pathetischen Sätze des Textes) kitschig, stimmt aber. Wenn Elsaid singt, macht er das mit so einer Emotionalität, dass man ihn wirklich fliegen zu sehen glaubt.
Wer ist auf der Bühne?
Neben den Menschen ist auch die besagte LED Wand auf der Bühne. Die Zuschauer*innen folgen über lange Teile der Inszenierung den Worten, die auf ihr erscheinen (was auf Dauer aufgrund der großen Textmengen etwas anstrengend ist). Mal erzählt sie von ihrer Reise als Ware, mal erscheinen auf ihr Zitate, O-Töne der Evergivenhavarie. Dabei kann man nicht anders, als die LED Wand als gleichberechtigte Protagonistin zu betrachten. Wieso allerdings auf ihr in Worten erscheinen muss, was die Menschen auf der Bühne in derselben Sekunde machen, erschließt sich nicht ganz … Lieber würde man sich ganz auf den Menschen fokussieren, als auf die LED Wand. Wie sie selbst formuliert, ist sie eigentlich nicht mehr als eine Werbewand. Andererseits geht ohne sie eben nichts. Sie erzählt wesentliche Teile der Geschichten, sie spendet mit ihrem Auftritt das Licht, in dem sich die Menschen bewegen. Zum Glück sagt Arabi am Ende: “Ich habe einen Namen.”, während die LED Wand namenlos bleibt, erlischt und sich am Ende auch nicht verbeugt. Die Menschen sind zum Glück doch wichtiger als die Ware.
Evergiven ist ein dichter Abend, der interessant anzuschauen ist. Zugleich kommt, trotz des Appells für Geduld und das ‘sich-Zeit-nehmen’, das Gefühl auf, dass manche Passagen etwas lang geraten sind und ermüden. Jedenfalls sollte man kein zackiges Dokutheater über die Havarie der Evergiven erwarten! Über diese erfährt man nichts Neues. Das Team um Regisseurin Haug bietet aber viel mehr und spielt formal mit Zeit, Rhythmus und tradierten Erzählformen. Die Havarie ist nur der Anstoßpunkt, das Bild, aus dem sich die Revue entwickelt und auf das sie immer wieder zurückkommt. Jeden Abend aufs Neue. Jeden Abend in einer anderen Reihenfolge.
UA Evergiven. Eine Kipp-Punkt-Revue von Helgard Haug (Rimini Protokoll)
mit: Hana Hazem Arabi, Adham Elsaid, Michaela Groch-Fischer, LED, Marianne Vlaschits | Live-Musik: Barbara Morgenstern, Daniel Eichholz | Live-Elektronik: Peter Breitenbach
Konzept, Text, Regie: Helgard Haug (Rimini Protokoll) | Bühne und Kostüm: Evi Bauer | Komposition: Barbara Morgenstern, The Sea Beats | Videoart und Lightdesign: Marc Jungreithmeier | Sounddesign: Peter Breitenbach | Dramaturgie: Henning Nass, Maria Nübling | Recherche: Maria Nübling | Produktionsleitung: Maitén Arns, Eva Luzia Preindl | Touring Management Rimini Protokoll: Chloé Ferro | Technische Leitung Rimini Protokoll: Patrick Tucholski | Container ship video-footage: Christoph Schwarz | Künstlerische Mitarbeit / Recherche: Lisa Homburger | The Sea Beats: Peter Breitenbach, Daniel Eichholz, Adham Elsaid, Barbara Morgenstern
Mehr Informationen unter Evergiven – Volkstheater Wien
Fotos: © Marcel Urlaub