Kosmos Theater /// 13. Dezember 2018 /// Begehren
Ein Überraschungsmoment eröffnet den Abend am Kosmostheater. Fünf nackte Schauspieler_innen laufen auf die Bühne, platzieren sich vor uns, halten Blickkontakt und lächeln uns zu. Ein subtil aufkommendes Schamgefühl ist unvermeidbar, peinlich berührtes Wegschauen aber auch uncool. Also schnell Zurücklächeln– das ist nie falsch!
Die Zuschauer_innen der Inszenierung “Begehren” von Sara Ostertag werden damit schlagartig mit dem Zusammenspiel von Scham und Sexualität konfrontiert. Sex ist heute kein Tabuthema mehr. Persönliche Bekenntnisse und ein reger Austausch skuriller Präferenzen sind in einer derart sexualisierten Öffentlichkeit weder revolutionär, noch verpönt. Aber wie erkennen wir unser Begehren? Sind wir bereit Begehren zuzulassen, Scham und verinnerlichte Schubladisierungen zu überwinden? Begehren als „Fluss ohne Ufer“ und in welchem Verhältnis Lust und Begehren zu Liebe stehen, beleuchtet Gesine Schmidt, die Autorin des Stückes, in ihrer doku-fikitionalen Feldforschung „Begehren“. Die Autorin sprach mit vier Frauen und drei Männer zwischen 26 und 75 Jahren über ihre sexuelle Lust. Aus dem Material entwickelte sie Szenen, die in der Ich-Perspektive Begehrensgeschichten von Tinderdates überpolyamorösen Beziehungen bis hin zu Freundschaft Plus umfassen.
Der sachliche Ton, der in Sara Ostertags Inszenierung das Thema Sexualität beschreibt, eröffnet einen Freiraum, der jeglichen Maulkorb über sexuelle Vielfalt verweigert. Die sexuelle Intimität wird in einen alltäglichen Kontext gerückt, sodass man meinen könnte, die Schauspieler_innen erklären etwas Banales wie ein Kochrezept, wenn sie detailreich von den Erfahrungen und Vorlieben der Figuren berichten. Schamgefühl ist hier deplatziert. Anstatt untereinander in Dialog zu treten, sprechen die Schauspieler_innen den Zuschauer_in mit offensiven Augenkontakt direkt an, was an die Situation zwischen Autorin und den Interviewten erinnert. Ein Entkommen ist unmöglich. Es gibt keine Figurennamen, keine kohärente Handlung und der Text ist weder an Raum und Zeit gebunden, was dem Stück eine gewisse Allgemeingültigkeit verpasst und den Identifikationswert für die Zuschauer_innen steigert.
Gegenüber der Sachlichkeit des Textes stehen performative Szenen, die zwischen Gesang, Tanz und Akrobatik changieren und Bilder von Eifersucht, Zweisam- und Einsamkeit, Vertrauen und emotionalen wie physischen Schmerz erzeugen. Nicht die Emotionen unter den Partnern sind hier evident, sondern die Suche nach einem Ich, mit seinen ganz eigenen Motiven und nuancierten Vorlieben.
Das von Nanna Neudeck und Pia Stross konzipierte Bühnenbild erzeugt mit seiner starken Symbolik einen besondere Perspektive auf das Thema Sexualität: Die anfangs durch eine mobile Mauer geteilte Bühne ermöglicht ein paralleles Geschichteerzählen der Figuren. Der zuerst verwirrte Zuschauer_innen bemerkt schnell, dass die Variabilität und Vielfältigkeit von Begehrensgeschichten unerschöpflich ist. Mit fortschreitender Handlung bricht die Mauer als Barriere auf.
Seitens der Regie eine unmissverständliche Ansage: Ein Solidaritätszugeständnis an alle, die Sexualität frei leben, wie sie wollen und eine Absage an bornierten Vorurteilen und kollektiven Identitäten, die sich über Ausgrenzung profilieren.
Trotz des Textes, der allbekannte Stereotype umreißt, schafft es die Inszenierung mit einer kurzweilig und abwechslungsreichen Darbietung in keine Klischeefalle zu tappen. Ein außergewöhnlicher Abend erwartete euch im Kosmostheater, der zur Mut und Selbstvertrauen einlädt, „das Gefühl, dass einem was fehlt“, zu überwinden.