Gösserhallen /// 30. Mai 2019 /// La vita nuova
Das jünge Gericht ist, wenn Mechaniker in verlassenen Garagen die Autos umdrehen. Dann ist Revolte. Dann gibt es die Chance auf ein neues Leben. Romeo und Claudia Castellucci machen Theater wie ich es liebe.
Also, nachdem Rapid zuhause 2:1 gegen Sturm verloren hat (IM PLAY-OFF !!!) werden wir in den Gösserhallen (IN FAVORITEN !!!) in eine Halle vorgelassen. Obwohl es ein Steh-Theater ist, schmuggle ich mich auf einen Sitzplatz auf einem Fenstersims, weil ich verständlicherweise heute schon etwas gefordert bin. Vor mir stehen 27 Autos, bedeckt von weißen Leintüchern. Im schummrigen Garagen-Raum steht Nebel. Ein großer schwarzer Mann in weißem Overall macht einen langen Gang auf uns, das Publikum, zu. Manche Menschen im Publikum scheinen eingeschüchtert. Auf mich wirkt der Mann beruhigend und angenehm. Er legt zwei Reifen neben uns ab, dreht sich, sieht uns an. Sein ruhiger, ernster Blick nimmt nicht nur mich sofort mit in diese Szene, in dieses Stück. Scheiß Bundesliga, jetzt ist Castellucci.
Circa 40 Minuten lang zelebrieren nun fünf sehr große Männer in weißen Talaren das religiös anmutende Ritual, das eine Renaissance einläuten soll. Beeindruckt bin ich vom konzentrierten Tempo, den ruhigen, ernsten Blicken der Spieler, die sich nie verändern. Alles ist wichtig. Alles muss genau so, genau jetzt. Es ist wahnsinnig schön, ihnen einfach bei ihrer Arbeit zuzusehen. Licht und Sound ergänzen perfekt, was vor uns abläuft. Schäfe blöcken in der Ferne, wenn die Männer mit langen Stöcken in der Hand den Raum abschreiten. Straßenverkehr lärmt melodisch verarbeitet, als die Männer die stehenden Autos verschieben. Sie sind Hirten, Priester, Arbeiter, Künstler. Ihre Tätigkeiten schaffen ihre Identität.
Es ist beachtlich, wie lange sich Castellucci auf die starke Dramaturgie des Abends verlassen kann.
Erst knapp vor Schluss fällt das erste Wort. Es fällt in schönem, klaren Französisch. Erst spät erkenne ich die Übertitel auf einem dunklen Metallbalken über mir. Doch die Festwochenpresseabteilung stellt den Text als ziemlich hübsches Heftchen zur Verfügung. Deshalb darf ich die ziemlich schöne “Parabel vom umgedrehten Auto” zitieren. Allein auf einem umgedrehten Auto stehend, dessen Scheinwerfer leuchten, dessen Auspuff Abgase in den Zuschauer_innenraum bläst und dessen Vorderräder sich drehen, spricht der letzte verbleibende Spieler im glänzend-weißen Talar:
“Kennt ihr die Parabel vom umgedrehten Auto? Das auf das Dach gedrehte Auto ist die Revolte der dekorativen gegen die freie Kunst. Diejenigen, die ein Auto umdrehen, sind die Handwerker, die es leid sind zu arbeiten, ohne die Früchte ihrer Arbeit zu genießen. Das umgedrehte Auto ist die Kunst, die selbst bei laufendem Motor nirgendwohin führt. Der laufende Motor ist der Motor der sich aneinanderreihenden Tage, einer an den anderen. Die in die Luft ragenden Räder sind die himmlischen Pfade, auf die irdische Objekte gerichtet sind. Der Motorlärm ist die Stimme der Dinge und Ereignisse, die auf ihre Befreiung warten.”
Fazit: Wenn irgendwo Castellucci drauf steht: Schaut es euch an. Es ist immer mega. Versprochen. Es heilt auch Wunden, die euch der Fußball hinzugefügt hat.
LA VITA NUOVA
Konzept, Regie Romeo Castellucci Text Claudia Castellucci Musik Scott Gibbons Mit Sedrick Amisi Matala, Abdoulay Djire, Siegfried Eyidi Dikongo, Olivier Kalambayi Mutshita, Mbaye Thiongane Regieassistenz Filippo Ferraresi Bühnenobjekte Plastikart Studio (Istvan Zimmermann, Giovanna Amoroso) Umsetzung Kostüm Grazia Bagnaresi Technische Leitung Paola Villani Bühnentechnik Andrei Benchea (Leitung), Eugenio Resta, Carmen Castellucci, Daniele Magnani Licht Andrea Sanson Ton Nicola Ratti Produktionsleitung Benedetta Briglia, Giulia Colla Produktionsassistenz Caterina Soranzo Internationale Promotion Gilda Biasini Administration Michela Medri, Elisa Bruno, Simona Barducci Beratung Massimiliano Coli Szenenfotografie Stefan Glagla Video Luca Mattei
Fotos: © Stefan Glagla / KANAL.