Bei Neue Wiener Theaterkritik diskutieren wir oft über theaterrelevante Fragen. Die Antworten auf diese sind nicht einfach nur leiwand oder oasch, sondern beinhalten sowohl positive als auch negative Aspekte. In unserem neuen Format „Im Zwiespalt“ fassen wir diese kurz und bündig zusammen – bewusst zugespitzt und ohne eindeutiges Fazit. Denn das überlassen wir euch. Wir freuen uns aber umso mehr über eure Meinungen sowie anregenden Austausch.
Kabale und Liebe, Woyzeck, Antigone & Co: Manche verehren, andere verabscheuen Klassiker, aber so gut wie jede*r ist ihnen wohl im Deutschunterricht schon begegnet. Auch auf den deutschsprachigen Bühnen dominieren sie nach wie vor die Spielpläne. Texte von ausgezeichneten zeitgenössischen Autor*innen wie Barbi Marković, Elfriede Jelinek oder Fiston Mwanza Mujila gibt es zur Genüge, doch sie stehen oft nur in zweiter Reihe. Ist diese Ungleichbehandlung wirklich gerechtfertigt? Was spricht für die Inszenierung von Klassikern, was für zeitgenössische Dramatik?
Die Gegenwart ist einzigartig, denn ein gesellschaftliches Zusammenleben in der heutigen Form gab es in dieser Weise noch nie und wird es genau so auch nicht mehr geben. Um diese Umstände verstehen zu können, braucht es Dramatiker*innen, die aktuelle Fragen, Probleme und Utopien aus zeitgenössischen Perspektiven erfassen, beschreiben sowie verarbeiten. In der Gegenwart genießen diese Autor*innen jedoch zu Unrecht wesentlich weniger Raum und Anerkennung als ihre verstaubten und schlecht gealterten Kolleg*innen.
Deutschsprachigen Theatern scheint dies einerlei zu sein, bersten ihre Spielpläne doch Jahr um Jahr geradezu vor Klassikern. Dabei könnten sie mit der vermehrten Ansetzung zeitgenössischer Stücke zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits würde dies zeitgenössischen Autor*innen eine Plattform für ihre vergleichsweise diversen, gegenwärtigen, postkolonialen, feministischen sowie queeren Texte jenseits des klassischen Kanons bieten. Andererseits könnten durch die Inklusion dieser Stimmen neue Publikumsschichten jenseits der tendenziell älteren, weißen und heteronormativ geprägten Oberschicht angesprochen werden.
Die Homogenität der Zuseher*innen ist unter anderem auch eine Folge der Stückauswahl: Für welche Zielgruppen Theater (nicht) konzipiert ist und wer dabei (kaum) repräsentiert wird, bestimmt mit, wer letztendlich Vorstellungen besucht. Klassiker wurden beinahe ausschließlich von weißen Männern des Bildungsbürgertums verfasst und stammen aus einer Zeit, in der das weiterhin herrschende Patriarchat noch mehr Macht als in der europäischen Gegenwart ausübte. Dadurch sind starke, eigenständige Frauen*rollen und Figuren jenseits binärer Geschlechteraufteilung, heterosexueller Orientierung oder weißer Hautfarbe stark unterrepräsentiert. In den seltenen Fällen, in denen man ihnen doch begegnet, werden sie oft höchst problematisch und verzerrt dargestellt.
Natürlich ist eine Um- bzw. Neudeutung dieser Werke möglich, doch sollte zeitgenössische Dramatik aufgrund ihrer angemesseneren Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Vordergrund stehen. Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass sich dies in Zukunft auch in den Spielplänen der Theater widerspiegelt!
Die meisten zeitgenössischen Werke können mehr oder weniger direkt auf zumindest einen der großen Klassiker zurückgeführt werden. Dass dies kein Zufall ist, liegt auf der Hand: Texte, die die Menschheit über Jahrhunderte, teils gar Jahrtausende beschäftigen, zeichnen sich durch eine zeitlose Relevanz aus. Diese ist auf die textlich hochqualitative Verarbeitung menschlicher Kernmotive beziehungsweise Konflikte, wie etwa den Kampf um Freiheit in Schillers „Kabale und Liebe“, zurückzuführen.
Solch eine Leistung gelingt jedoch den wenigsten Autor*innen. Daher wird nur ein äußerst geringer Teil zeitgenössischer Dramatik in die Riege bedeutender Texte aufgenommen. In der Folge sind es auch zurecht Klassiker, die in den Spielplänen deutschsprachiger Theaterhäuser überwiegen. Die Werke dienen zudem als Dokumente historischer Gesellschaftsverhältnisse und Perspektiven. Eine Auseinandersetzung mit ihnen, insbesondere aus heutiger Perspektive, bietet die Möglichkeit zu neuen Erkenntnissen – sowohl über Vergangenheit, Gegenwart als auch mögliche Zukünfte.
Selbst aus einem betriebswirtschaftlichen Blickwinkel ergibt der vermehrte Einsatz klassischer Dramen überaus Sinn. Ihr Urheber*innenrecht ist zumeist bereits erloschen, somit dürfen sie nach Belieben inszeniert und textlich verändert werden, ohne sich um lästige Verlagsgebühren oder Einwände sorgen zu müssen.
Trotz ihres Alters bleiben Klassiker frei von jeglicher Staubschicht: Sie sind weder historisch konstant, noch eindeutig lesbar, sondern werden täglich neu interpretiert. Dieser Raum für Vielfaltsreichtum spiegelt sich auch in der theatralen Umsetzung wider: Jede Inszenierung und damit auch ihre jeweiligen Aussagen sind einzigartig. Lasst uns daher Klassikern weiterhin den Stellenwert geben, den sie verdienen!
Foto: Verena Strasser und Sebastian Klinser