Akademietheater Wien /// 10. November 2023 /// Kaspar von Peter Handke
Was kann man mit Handkes Sprechfolterung Kaspar (1967) heute machen? Genau! Eine visuelle Folterung hinzufügen – wer kann das schon besser als Daniel Kramer und sein Team (am Burgtheater bereits für Engel in Amerika bekannt)? Wer sind wir und was prügelt uns zu denen, die wir sind? Was kann Sprachkritik leisten und inwiefern reicht sie als fixe Idee nicht mehr aus?
Ein an Kafkas Gregor Samsa erinnernder, in Ungeziefer verwandelter Mensch quetscht sich durch einen durchsichtigen Schlauch von oben auf die düstere Bühne. Doch dieser Mensch hat sich nicht in ein Ungeziefer verwandelt – er wurde so geboren und soll nun zum Menschen werden. Mit Handkes sprachlicher und in der Inszenierung von Daniel Kramer auch krasser physischer Gewalt wird aus dem anfänglichen Ungeziefer die Figur des Kaspar (grandios filigran gespielt von Marcel Heuperman).
Die Einsager*innen (Laura Balzer, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Markus Scheumann) richten Kaspar von Beginn an her, sägen seine unordentlichen Ungeziefer-Gliedmaßen brutal mit einer Kettensäge weg, zwängen ihm Ordnung ein, verprügeln ihn, lassen ihn nackt dastehen, torpedieren ihn mit Laubbläsern, hängen ihn auf und lassen ihn in die Höhe schweben, nur damit er nochmal durch den engen Geburtsschlauch gezwängt wird. Dazu laufen immer wieder bekannte Rock-Songs (u.a. Sweet Dreams) und alles gleicht einer “Rock-Oper mit grellen Effekten” (Handke). Diese Einsager*innen sind aber mehr als Handkes Stimmen in den 60er Jahren, die “vielleicht vom Band sprechen” (Handke) und Kaspar sprachlich indoktrinieren: Bei Kramer sind sie mit ihren Körpern sichtbar. In schwarze, glänzende Mäntel und eine Art Gasmasken gekleidet, treten sie als brutaler Trupp auf. Ihre Anzahl potenziert sich im Schattenspiel des Hintergrundes. Ihre Stimmen sind, wie von Handke gefordert, bedrohlich entstellt. Doch in der Inszenierung des Akademietheaters haben selbst diese Stimmen der gesellschaftlichen Ordnung menschliche Züge und körperliche Bedürfnisse. Sie sprechen auch mal flirtend zu Kaspar, der auch eine Liebesszene zwischen zwei der dunklen Gestalten beobachtet. Oder sie posieren mit ihm, der mittlerweile zu einem gepflegten Riesenbaby geworden ist, zu einem “Familien”-Foto.
Kaspar wird schließlich Teil der modernen Gesellschaft. Nach kurzem, offen sichtbaren Umbau lebt er in einer ordentlich eingerichteten Wohnung. Weitere Kaspars kommen hinzu. Sie leben vor sich hin. Der Fernseher wird ein- und ausgeschaltet. Es wird geduscht. Es wird gestaubsaugt. Es wird gekackt. Alles geschieht ohne ein gesprochenes Wort. Alles geschieht aneinander vorbei. Nur der Fernseher und seine Geräusche, die medialen Geräusche der Gesellschaft, donnern (manchmal sehr laut) auf die Kaspars und Zuschauenden weiter ein und setzen die Folter der Einsager*innen quasi fort. Die Kaspars spielen wie man lebt: Allgemeingültig in großen Städten, einsam, angepasst, unter Druck – Antidepressiva werden von ihnen massenweise geschluckt.
Trotz der Sehnsucht nach Stille entfaltet sich das Stück im Jahr 2023 zu einer makabren Clownerie. Die vormaligen Einsager*innen kehren wieder. Diesmal nicht als schwarz gehüllte Gestalten, sondern in funkelnden Clownkostümen – je ein Messer in der Hand. Kaspar sagt: “Ich nehme nichts mehr wörtlich.” Ist das der Bruch mit den Einsager*innen, von deren Gewalt er sich zu befreien versucht? Letztlich sitzt Kaspar, wieder entkleidet, halb abgeschminkt, nachdem er als Dragqueen aufgetreten ist, dem archimedischen Punkt des Körperlichen und des Sprachlichen gegenüber: Einer riesigen Atombombe, die den Großteil der Bühne einnimmt. Die Atombombe ist das Symbol gänzlicher Zerstörung, die alles aus den Angeln zu heben droht. Die von den Einsager*innen im Verlauf des Stückes indoktrinierte Ordnung ist hier eindeutig endlose Gewalt geworden. Der zuvor süffisant geäußerte Satz “Der Krieg ist zwar ein Unglück, aber manchmal unvermeidbar.” führt zu einer damals wie heute erschreckend aktuellen Ausweglosigkeit.
Die Inszenierung ist eine bildgewaltige Montage, die grausam und fesselnd zugleich ist. Manchmal hat man vielleicht den Eindruck, dass hinter der visuellen physischen Gewalt die grandiose Sprachregie der “Sprechfolterung” (Handke) etwas untergeht. Doch genau das ist die Stärke: In Zeiten von Social Media, KI und der damit einhergehenden Bilderfluten ist Daniel Kramers visuelle (Über)ladung absolut notwendig. Wir sind längst über die reine Sprachkritik als fixe Idee hinweg. Es ist gut, dass das Ensemble auch die menschlichen, körperlichen Bedürfnisse in Machtstrukturen nicht vernachlässigt. Wenn gesprochen wird, sprechen immer noch Menschen. Was die Angelegenheit nur komplizierter macht.
KASPAR
Peter Handke
Kaspar: Marcel Heuperman | Einsager*innen: Laura Balzer, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Markus Scheumann | Regie: Daniel Kramer | Bühne: Annette Murschetz | Kostüme: Shalva Nikvashvili | Musik: Teil Bow | Choreografie: Pandora Nox | Licht: Marcus Loran | Videodesing: Johannes Traun | Dramaturgie: Stephan Müller | Mitarbeit Regie: Mitchell Polonsky
Mehr Informationen hier:
https://www.burgtheater.at/produktionen/kaspar
Fotos: ©Susanne Hassler-Smith