E. T. A. Hoffmann Theater Bamberg /// 29.10.2023 /// Hänsel & Greta & The Big Bad Witch
Am E.T.A. Hoffmann Theater Bamberg hat Kim de l’Horizons Hänsel & Greta & The Big Bad Witch deutsche Erstaufführung. Dass Zuschauer*innen kein klassisches Drama erwarten dürfen, legt der Märchentitel nahe. Aber auch sonst ist hier einiges anders.
Ist das Grimm’sche Hausmärchen eine Dystopie? Hänsel und Gretel werden von ihren Eltern mangels Nahrung im Wald ausgesetzt. Dort treffen sie auf das krasse Gegenteil der Knappheit. Der Hunger der Geschwister und dann: ein Lebkuchenhaus… der Rest ist bekannt. In Kim de l’Horizons Überschreibung des Hausmärchens geht es um diesen Hunger. Hier ist es jedoch der unersättliche Hunger der Eltern, die in den wackligen Bildern einer Nachtsichtkamera die Vorräte in sich hineinstopfen, und – krasse Wende – der Hunger Gretas/Gretels nach Liebe, einem passenden Körper und einer Welt, die verständlich ist. Kim de l’Horizons Text arbeitet mit diesen Zweideutigkeiten der Sprache – der Hunger im Magen und Hunger als Sehnsucht , ohne dafür in akademische Diskurse abschweifen zu müssen. Zum Schluss sitzt das von Regisseurin Wilke Weermann duplizierte Geschwisterpaar Hänsel und Greta/Gretel vor dem Wohnwagen, der hier das Hexenhaus ist. Sie teilen einen Joint und ihre doppeldeutige Trauer: „Die Trauer über Matthew Perry“ sagt Hänsel, „die Trauer über Putin“ sagt Greta, die mittlerweile wieder zu Gretel geworden ist.
Pflanze werden als Ausweg
Etwas schade ist es, dass Weermann die Rolle der Big Bad Witch eine verzerrte Stimme aus dem Off übernehmen lässt. Die beiden Hänsels und Gretas/Gretels müssen ihr wie in ‚Der Exorzist‘ ihre Körper leihen. Wiebke Jakubicka-Yervis (Hänsel), Jeanne Le Moign (Hänsel), Alina Rank (Gretel/Greta) und Ewa Rataj (Gretel/Greta) spielen ihre Doppellrollen großartig, nur ist der Text der Hexe durch die Verzerrung oft kaum verständlich. Unabhängig von dieser technischen Schwierigkeit will Kims Überschreibung die Hexe ja eigentlich von ihrer Dämonisierung im Märchen befreien. In Kims Text weist die Big Bad Witch Hänsel und Greta/Gretel den Ausweg aus Klimakatastrophe, Einsamkeit und dem großen Fressen. Dazu freilich passt die ‚Der Exorzist‘-Adaption in Bamberg nicht ganz. Die Rettung der Hexe ist die ‚Echte Lungenflechte‘, ein „Indikator für intakte Ökosysteme“ (Wikipedia), der für Verästelung, Symbiose und die unendliche Vielfalt möglicher Wucherungen steht und Schwyzerdütsch spricht. Pflanze werden. Eine Utopie, die wie die Hexenfigur selbst an Kim de l’Horizons Debutroman Blutbuch anknüpft.
Die Inszenierung hat Schwächen: Zwei große Kamine eines Heizkraftwerks als Bühnenbild (Lara Scherpinski) für den mittlerweile gerodeten Märchenwald wirken uninspiriert. Die Stärken der Inszenierung werden dafür schnell zu großartigen Momenten: In den bunt geflochtenen Zöpfen (Kostüm ebenfalls Lara Scherpinski) kehrt die Pflanzenflechte als Ausweg aus der Katastrophe wieder und die Bühnenmusik von Constantin John erzeugt eine stimmige Atmosphäre während ihrer Beschwörung. Zu guter Letzt ist der Augenblick, in dem die Glasfront des Theaters Bamberg träge auffährt, kalter Wind und Regen vom miesen Novemberwetter draußen in Bamberg hereinkommen und Hänsel und Gretel sowie das Publikum für einige Momente rausschauen, das Draußen ins Theater kommen lassen, vielleicht einer der großen Theatermomente in der Spielzeit 2023/2024.
HÄNSEL & GRETEL & THE BIG BAD WITCH
Deutsche Erstaufführung von Wilke Weermann
Es spielen: Wiebke Jakubicka-Yervis, Jeanne Le Moign, Alina Rank, Ewa Rataj | Text: Kim de l’Horizon | Regie: Wilke Weermann | Bühne und Kostüm: Lara Scherpinski | Musik und Sounddesign: Constantin John | Dramaturgie: Armin Breidenbach
Mehr Informationen auf https://theater.bamberg.de/spielplan/stuecke/haensel-greta-the-big-bad-witch/.
Nächste Vorstellungen: Freitag 03.11., Samstag 04.11., Mittwoch 06.12., Freitag 08.12., Samstag 09.12., Donnerstag 14.12., Sonntag 17.12. jeweils um 20 Uhr.
Fotos © Martin Kaufhold