Landestheater Niederösterreich /// 15. September 2018 /// Der gute Mensch von Sezuan
Die Landesbühne Niederösterreich eröffnete die Spielzeit 2018/19 mit der Premiere von Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan. Mit Regenfall und E-Gitarrenklängen wird dabei eine düstere Atmosphäre geschaffen, die das karge Bühnenbild weiter unterstreicht: Die Armut der Figuren ist es, die einem visuell und auditiv nähergebracht wird.
Die Bühne ist unbeleuchtet und das Stück öffnet mit milden Klängen: Sanfte harmonische Töne, die lange nachhallen. Dann setzt ein Nieselregen ein.
“Kauft Wasser“, singt Wang, der Wasserverkäufer, (Tim Breyvogel) mit flehendem Nachdruck und ohne weiterer Vorwarnung. Mit der Ruhe ist es vorbei, das Stück entfaltet sich.
Die Szenen gehen nahtlos ineinander über, es gibt keine ruhige Sekunde auf der Bühne. Es ist jedoch nicht stressig, sondern erinnert eher an eine gut gelungene Filmmontage: Die Schnitte bleiben für das Publikum unsichtbar.
Viel schneller als die Schauspieler*innen ihre Kostüme wechseln, wechseln die Figuren ihre Gesichter: Die Bewohner*innen Sezuans sind in jeder Situation an ihrem persönlichen Vorteil interessiert. Denn bei dem gezeigten Ausmaß an Armut bleibt scheinbar nur noch Platz für eine einzige Person – nämlich die eigene. Das gilt nicht für Shen Te, die tragische Heldin des Stücks, die aufgrund ihrer Selbstlosigkeit (oder lieber Selbstvergessenheit?) von ihren Mitmenschen rigoros ausgenutzt wird. Als sie alles zu verlieren droht, erschafft sie ein Alter Ego, den „Cousin“ Shui Ta. Er ist all das, was sie nicht ist: Auf seine wirtschaftlichen Interessen fokussiert und rücksichtslos bei der Verfolgung dieser.
Das Bühnenbild ist kärglich und leer. Das einzige größere Exquisit ist die Plane, die über ein Metalgitter geworfen ist, und durch Seile emporgehoben wird, sodass sie über den Boden schwebt. Sie fungiert als Shen Tes kleine Trafik. Dieses Konstrukt ist das schäbigste Element auf der Bühne, aber gleichzeitig das wertvollste, denn es ist der einzige Schutz vor dem Regen. Immer wieder finden sich die Bewohner*innen Sezuans unter diesem Dach versammelt, nur Shu Fu findet man nicht: Der reiche Barbier, der sich gerne als der gute Samariter aufspielt, ergötzt sich am Regen; Bei mehreren Gelegenheiten schüttelt er das Wasser absichtlich von der Plane – mal um sich damit die Haare nach hinten zu streichen, mal um sich die Hände zu waschen. Und schon ist alles klar: Der Regen ist eine gut umgesetzte Metapher für die Armut der Bürger*innen Sezuans. Ganz besonders im Falle von Wang, der es bei dem stetigen Regenfall nicht leicht hat, sein Wasser zu verkaufen.
Neben diesem sintflutartigen Regen ist auch die Musik Paul Dessaus, die auf einer einzelnen E-Gitarre gespielt wird, entscheidend für die Atmosphäre. Durch eine starke Verzerrung der Töne sind die Klänge selten angenehm, sondern eher unheimlich. Auch andere atmosphärische Klänge werden mit unkonventionellen Mitteln erzeugt: Ob es nun ein lautes Kaugummikauen ist, das das Ticken einer Uhr nachahmt, oder vereinzelte Tröpfelgeräusche, die im Epilog des Stücks nach all dem lauttönenden Regen plötzlich sehnsüchtig und einsam klingen.
TL; DR: Atmosphärisch stark und mit starken Schauspiel erzählt das Landestheater Niederösterreich Brechts Klassiker. Toller Saisonbeginn!
Inszenierung: Peter Wittenberg
Bühne: Sascha Gross
Kostüme: Cedric Mpaka
Kostüm- und Bühnenbildassistenz: Katharina Kielmann
Musik: Bernhard Moshammer
Regieassistenz: Olivér Illés, Emanuel Megersa
Shen Te/Shui Ta: Lili Epply
Dritter Gott, Großvater, Schreiner Lin To, Barbier Shu Fu, der Arbeitslose: Tobias Voigt
Yang Sun, Der hinkende Bruder, der Junge: Stefano Bernadin
Wang, ein Wasserverkäufer: Tim Breyvogel
Die Shin, Zweiter Gott, die Schwägerin: Bettina Kerl
Frau Yang, Frau, Tabakhändlerin: Josephine Bloéb
Erster Gott, Polizist, der Neffe, der Aufseher: Tobias Artner
Musiker, Ein Mann: Bernhard Moshammer
Bildrechte: (c) Alexi Pelekanos