- Das Bühnenbild steht ausdrucksstark im Bühnenraum. Der Eingangsbereich einer Pension in Schieflage. Auf dem Flachdach ein Puppenhaus, das nach und nach von innen erleuchtet wird. Stimmen aus dem Off über Public Adress Speakers. Alles wirkt wie in der Graphic Novel von “L’Ètranger”, die ich mir im Sommer aus dem Frankreichurlaub mitgenommen hab. Cool!
- Bin gespannt! Existenzialistisches Theater ist im besten Fall so dicht, dass man gar nicht aus kann. Eine Tragödie im antiken Sinn, eine gebundene Handlung, die so verlaufen muss, wie sie verläuft.
Es gibt keinen Ausweg. Das zu sehen ist hart: Das Geworfensein und die Unausweichlichkeit.
- Natürlich kann man auch spannend gegen die angelegte Lesart inszenieren. Ich freu mich auf den Moment, wenn die Katastrophe eingetreten ist und die beiden Frauen erkennen, dass sie ihren Sohn/Bruder ermordet haben. Dieser Moment hat das Potenzial schauspielerisch zu glänzen.
- Schön ist die Szene zwischen Jan (dem Heimkehrer, der seiner Familie aus der finanziellen Not helfen möchte, sich aber nicht sofort zu erkennen gibt) und seiner Frau. Sie will ihn umarmen, doch er lässt sie nicht. Nicht wirklich zumindest. Aber auch nicht org, sondern fast ein bisschen liebevoll. Wie eine Emotionsverschiedenheit in einer guten Beziehung, denk ich mir. Schön inszeniert, Nikolaus Habjan. An der Bühnenkante steht ein gemütlicher Polstersessel. In den wirft Jan seine Frau, die an ihm hochgeklettert ist, um ihn nicht mehr loszulassen, schließlich hinein. In die Zuschauerposition verwiesen, denk ich mir und hab eine Freude an der guten Idee dieser Geste.
- Dass Nikolaus Habjan das mit den Puppen kann, weiß jede_r, der_die ein bisschen mit Theater in Wien oder Graz zu tun hat. Und auch hier funktioniert es hervorragend. Die Doppelung, die man aus den höher gelegenen Sitzplätzen sieht – nämlich Puppen und Schauspieler_in – stört dabei keineswegs, sondern fügt der Wahrnehmung des Bühnengeschehens eine unheimliche Dimension bei. Angesichts der Infragestellung der Menschlichkeit menschlichen Handelns passt das mit den Puppen/Menschen-Zwitterwesen sehr gut.
- Camus‘ Sprache wirkt manchmal echt bochn. Ein bisschen wie deutsche Versionen von französischen Filmen aus den 1970ern. Ich hab das Stück nicht gelesen. Manche Sätze wirken so absichtlich herausgestellt, dass sie mir nicht nahe gehen. Aus meiner Leseerfahrung mit “Der Mensch in der Revolte” oder “Der Fremde” kenn ich das nicht.
Die französische Klischeemusik “La mer” von Charles Trenet trägt zur Klischierung bei und ist leider auch der Anfang dessen, was in Habjans Inszenierung nicht funktioniert.
- Die Auflösung überzeugt mich nicht. Nach einem wunderschönen Todesfall (Die Puppe Jans fällt “ertrinkend” vom Dach des Hauses) nimmt mich das Verhalten der Mutter und Schwester in der Erkenntnis der Situation nicht ein.
- Mich irritiert, dass Martha von einem männlichen Schauspieler geführt wird. Habjan selbst leiht ihr Stimme und Beine. Besonders im letzten Teil des Stückes, in der Zweierszene mit Jans Ehefrau (von einer Schauspielerin dargestellt) wirkt Marthas Gender-Performance aufgesetzt stereotyp. Ich habe die Darstellung nicht als bewusst gesetztes Stilmittel wahrgenommen. Die Gender-Ebene wird weder im Kontext des Stückes noch in der restlichen Inszenierung thematisiert. Wieso also in Marthas Figur?
Die Regieentscheidung, in Marthas Figur gender bending zu betreiben, irritiert mich.
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- Ich benütze das Wort Irritation übrigens nicht negativ, sondern wertneutral in dem Sinn, dass es mich vor eine Frage stellt, deren Antwort ich in kritischer Selbstbefragung ebenso wie in der Befragung dessen, was ich auf der Bühne innerhalb der Vorstellung wahrnehme, suche. Ich denke an die vielen “lustigen” Darstellungen weiblicher Figuren durch Männer. Ich denke daran, wie sehr solche Darstellungen mich als Frau jedes Mal ärgern, wenn ich sie sehe und wie sehr sie Transgenderpersonen ärgern müssen. Und selbst wenn nicht – es ist potentiell beleidigend, jemanden als Witz zu benützen. Und es ist diskriminierend, eine gesellschaftliche Gruppe, die mit vielen systemischen und alltäglichen Herabwürdigungen zu kämpfen hat, als Stilmittel für Humor zu benützen. Diese Gedanken im Hinterkopf finde ich die Regieentscheidung betreffend der Besetzung Marthas ob ihrer Unkommentiertheit fast fahrlässig. Zu einfach ist es, Habjans Martha als „nicht richtige Frau“ wahrzunehmen. Mich würde brennend interessieren, was andere Zuschauer_innen zu diesem Thema denken.
- Die gestelzte, bubenhafte Beinarbeit Marthas lässt mich an klassische Shakespeare-Darstellungen denken. Auf zeitgenössische Wahrnehmungserfahrungen hin wirkt das komisch. Der Verdacht auf Karnevalisierung von Transgenderpersonen stellt sich, löst sich aber (Gott sei Dank) nicht ein.
- Das Gesicht der Puppe ist bleich, an den Wangen etwas eingefallen und trägt die Frisur von Herta Müller. Dabei ist Martha eine 25-jährige alleinstehende Frau, die noch was will vom Leben (nämlich ein Haus am Meer).
Die Kombination aus erhöhter Männerstimme, durchlebtem Gesicht und gestelzter Beinarbeit hat mich das ganze Stück über irritiert.
- Auch aus feministischer Perspektive verstehe ich diese Gender-Überlegung in der Besetzung nicht. Da gibt es mal ein Stück, das zwei (bzw. drei) Frauen im Zentrum hat. Es geht inhaltlich um große philosphische Fragestellungen und nicht um romantisches oder bildungsbürgerliches Geplänkel. Die Frauen bei Camus sind Figuren für sich und nicht (wie sonst häufig) stumme Handlungselemente. Wieso dann den Schritt “zurück” gehen und eine der Figuren mit einem Mann besetzen?
- Meine Theaterbegleitung meint, es sei doch egal, ob die Puppe von einem Mann oder einer Frau gespielt würde. Ich empfinde das aus oben genannten Gründen nicht so. Aber ich denke jetzt, queere Besetzung trägt zumindest zur Auflösung der Gender-Binarität bei.
Am Ende habe ich ein schönes Stück gesehen, das mich ästhetisch interessiert hat. Der Minuspunkt ist für mich die Auflösung. An “Das Missverständnis” finde ich den Moment des Erkennens am spannendsten. Fremdheit und Heimatbedürfnis stehen in diesem Text diskursiv zueinander. Sie bedingen sich, verunmöglichen einander und lösen sich ineinander auf. Camus hat diesen Text in den 1940ern im von den Nazis besetzten Paris geschrieben. Trotz vieler clever gemachter und lustvoll anzusehender Inszenierungsideen hat Habjan den großen Moment des Stückes in meinem Empfinden nicht umgesetzt.
Dem Publikum hat es sehr gefallen. Der Applaus war anhaltend. Die Stimmung beim Verlassen des Publikumsraumes durchgängig gut.
Dieser Text stellt nicht mehr und nicht weniger als die Transkription meiner Gedanken während der Vorstellung dar. Vermutungen über den Fortgang der Inszenierung wurden nur aufgenommen, wenn sie sich bis Stückende nicht als Unrichtig bewiesen haben. Ich möchte mich im Vorhinein für jede Fehleinschätzung aufgrund von Unverständnis entschuldigen und bitte in diesem Fall um artikulierten (respektvoll und wertschätzend formulierten) Widerspruch.