Als Redakteurin von Neue Wiener Theaterkritik nehme ich euch mit auf eine Reise durch die Kunst- und Kulturlandschaft Klagenfurts. Einen ganzen Tag erlebte ich das abwechslungsreiche Programm des elf-tägigen Tanz- und Performance Festival Pelzverkehr in Klagenfurt am Wörthersee: Mit dem Besuchen von vier Produktionen an jeweils vier verschiedenen Spielstätten entpuppte sich der Tag als eine spannende Reise durch die Kulturszene Klagenfurts, die an kulturellen Knotenpunkten des Städtchens Einblicke in die Arbeiten von Künstler_innen aus dem Alpen-Adria Raum eröffnete.
Intendantin Ingrid Türk-Chaplek spricht von einem „Schmerz“ vor dem Beginn einer Tanzaufführung, als sie die Zuschauer_innen mit ein paar einführenden Worten in den Entstehungsprozess der Produktion heranführte. Der Grund dafür ist vielmehr ein sich strukturelles Phänomen: Die Mehrheit an jungen Menschen verlässt die ländliche Heimat, um ihre künstlerische Karriere in den Großstädten weiterzuführen. Für mehr kulturelles Angebot: zeitgenössische und experimentelle Kunstformate außerhalb der Metropole! – geht als eine zentrale Vision von Pelzverkehr hervor. Im Laufe des Tages wird ersichtlich, dass Ingrid Türk-Chaplek sich es zu einem persönlichen Anliegen macht, der Kultur-/Kunstzentralisierung auf eine oder wenige Städte entgegenzuwirken. Ziel ist, eine Community für innovativen Tanz und Performance in Klagenfurt und Umgebung zu etablieren, um für eine junge Generation eine Plattform zu schaffen, aber auch Kulturliebhaber_innen Kärntens ein Spektrum an zeitgenössischer Kunst zu bieten.
Besonders gelungen ist den Organisatorinnen das Festival als Ort des Austausches zu kreieren: Zuschauer_innen sind keine passiven Kunstkonsument_innen, vielmehr gibt es immer die Möglichkeit in einen Dialog mit den Künstler_innen im Rahmen von Gesprächen in gemütlicher Runde zu treten, um empfundene Impressionen und Emotionen zu teilen oder einfach den Künstler_innen Fragen zu stellen. Ebenso bieten Workshops die Chance, sich aus der persönlichen Komfortzone zu lösen und eigene Bewegungselemente zu erproben.
Am wohl kleinsten Aufführungsort des gesamten Festivals startet meine Reise durch das Festival Pelzverkehr. Es nennt sich Jugendstiltheater und ist man nicht aufmerksam, riskiert man, es schnell zu übersehen: Eine umgestaltete alte Pissoiranlage in ein neun Quadratmeter „großes“ Theaterhäuslein ist meine erste Etappe.
von VADA (Verein zur Anregung des dramatischen Appetits) , „Freak Orlando“, ein Film der avantgardistischen Regisseurin Ulrike Ottinger. Im Mittelpunkt steht die Kunst-Figur Orlando (referiert wird hier die Orlando-Figur von Virgina Woold), die sich ohne gesellschaftliche, soziale und geschlechtsspezifische Determinierung in einer Welt von mythischen und märchenhaften Wesen bewegt. Ein merkwürdig-groteske Umfeld gewährt eine farbenfrohe Freiheit für Fantasie und Skurrilität. Ein Film, qu(e)er durch Gesellschaftsschichten und Körperkulturen, der mit auferlegten sozialen Konventionen und dichotomen Geschlechterkonstrukten abrechnet. Gewöhnungsbedürftige Filmästhetik, aber absolut sehenswert!Der nächste Programmpunkt führt mich zu den Kammerlichtspielen, ein klassisches Jazzlokal, dessen Pforten auch neuerdings für Theater/Tanz geöffnet wird. Im Rahmen von Pelzverkehr wird die Bühne einer von dem TanzRaumK konzipierten Tanzproduktion „Kill your darlings“ zu Verfügung gestellt: Vier Darsteller_innen – alle mit „Kärnten-Bezug“ (lebend oder beheimatet in Kärnten) – zeigen Ausschnitte ihrer „Darlings“, sprich ihrer Lieblings-Tanzpassagen. Starke Bewegungssequenzen werden zu einer Großcollage zusammengebastelt. Einzelne Soli formieren sich zu einer ganzen Choreographie mit eigener Dynamik und Energiefluss: Via „Copy-Paste-Verfahren“ – dem gegenseitigen Imitieren der „Darlings“ – fügen sich einzelne tänzerische Stilnuancen zu einem bunten Arrangement an Bewegungsmaterial zusammen.
Der Raum für Fotografie ist die nächste Etappe der Tour durch die zeitgenössischen Tanz-/Performancekultur. Hier performt Asher O’Gorman in den hellen Räumen der Galerie ein beeindruckendes Farbenspiel auf Papierbögen. Wie harmonieren Körper und Material miteinander? Diese Frage erörtert die Performerin in CHROMATOGRAPHYCHOREOGRAPHY. Mittels in bunter Farbe getränkter Schaumstoffquarter und dem Einsatz des eigenen Körpergewichtes entsteht eine neue Form des Schreibens. Betrachter_innen tauchen in einen Schaffensprozess ein, in dem minimalste Bewegungen – das Zusammenspiel von sensiblen Körpergefühl und wachsamen Konzentration – von größter Bedeutung werden.
Der Tag, und auch die Reise durch das Tagesprogramm von Pelzverkehr, nähert sich dem Ende. Die Dunkelheit bricht ein, als sich eine Traube Menschen in der TheaterHALLE11 versammeln. Was löst Tanz aus? Was können Bewegungen freisetzen? Skurrile Laute, Schöne Stimmen und starke Texte – das zeigen die drei italienischen Tänzerinnen der Produktion „This is your skin“.
Der Tag, der ein reichhaltige und vielfältiges Programm an tänzerischen und performativen Formaten enthielt, endet mit einer wahrhaftigen Bewegungseskalation. Physische und stimmliche Praktiken verknüpfen sich zu einem Energiekreislauf – frei nach der Devise: Bewegung produziert Stimme, Stimme produziert Bewegung. Mit elektronischen Beats und eigenen Songeinlagen erweitert Irene Russolillo, Schöpferin dieses außergewöhnlichen Konzeptes, die Dimensionen des zeitgenössischen Tanzes. Ein kraftvoller Bewegungsfluss entsteht, der den weiblichen Körper aus Perspektiven des Sinnlichen bis zum Obszönen akzentuiert. Die aufkommende Müdigkeit vor der Aufführung ist im Nu verflogen. Das Betrachten der drei Tänzer_innen hatte einen so empowernden und vitalisierenden Effekt, womit letzte Energieressourcen freigesetzt wurden, die beim anschließenden Abdancen in der TheaterHALLE 11 zu der Funk- und Motown-Musik von Sophi Hörfrau nochmal völlig ausgeschöpft werden.
Fazit: Ein inspirierender und bereichernder Tag mit neuen Einblicken in progressive und experimentelle Tanz- und Performancekunst. Pelzverkehr glänzt mit einer Vielfalt an Bewegungsformaten, Spielstätten und unkonventionellen tänzerischen Ästhetiken. Nennenswert ist, wie – ohne es explizit anzukündigen – Frauen* in den Inhalten und im Darsteller_innenensemble hervorgehoben werden.