Volkstheater in den Bezirken /// 30. November 2024 /// Schwarze Schwäne
Zwei Schwestern. Die Jüngere möchte die Mutter zuhause pflegen, die Ältere sie in ein Pflegeheim geben. Nachdem die Jüngere ihrem Wunsch nachkommt und die häusliche Pflege eine immer größere Bürde wird, tritt durch Intervention ihrer Schwester Roboter Rosie in ihr Leben. Rosie misst, speichert und antizipiert die Bedürfnisse der Mutter exakt, doch was zunächst eine Unterstützung ist, wird mehr und mehr zum Surrogat, dann zum Katalysator einer Katastrophe, als die Mutter tot aufgefunden wird. Die pink gekleidete, blonde Puppe Rosie entpuppt sich als unvorhergesehenes Übel, als Schwarzer Schwan. Anne Bader inszeniert Christina Ketterings Siegerstück des Heilbronner Theaterwettbewerbs „Science and Theatre“ und wählt mit dem auf das Publikum zugehenden Volkstheater in den Bezirken einen Rahmen, der der Breitenwirkung des Sujets angemessen ist.
Anne Bader rückt in ihrer Inszenierung Care-Arbeit als Thema primär weiblicher Schultern in den Fokus. Nicht nur durch die rein weiblichen Rollen, sondern auch durch Kostüm (Nina Kroschinske) und Bühnenraum (Anne Bader), für die ein meist immer noch entsprechend konnotiertes Rosa gewählt ist. Verschiedene Stimmen finden Gehör, wenn die jüngere Schwester (Merle Wasmuth) etwa die Pflege zuhause als rebellischen Akt gegen ein auf utilitaristische Effizienz ausgerichtetes System verstehen will und die ebenfalls namenlose ältere Schwester (Elisa Seydel) dem entgegenstellt: „Ich habe mich nicht entschieden, geboren zu werden.“ Dass erstere Perspektive relativ ist, zeigt spätestens der Mangel an Pflegekräften in einem besichtigen Pflegeheim.
Merle Wasmuth als jüngere Schwester
Zentral ist die Beziehung der Schwestern, ihr unterschiedlicher Blick auf ihre Verantwortung und Erinnerungen an ihre Kindheit, die den jeweiligen Zugang zu ihrer eigenen Care-Arbeit als familiär gewachsen erhellen. Auch dieser Fokus ist es wohl, der die Rolle der Mutter auf der Bühne unterschlägt. Als die Jüngere die alleinige Pflege übernimmt und sich Einbußen im Job und in ihrem eigenen Familienleben bereits erahnen lassen, interveniert die Ältere: Rosie ist ihre Form der Unterstützung und an der Roboterhaftigkeit der Maschine lassen Fabia Matuscheks Schauspielkünste keinerlei Zweifel, während ihre dennoch zugewandte, auf menschliche Bedürfnisse und Sympathien hin programmierte Existenz, ambivalente Gefühle erzeugt.
Es kam mir plötzlich unhöflich vor, ihr keine Tasse zu geben.
Die jüngere Schwester über Rosies Anwesenheit.
Das Stück fängt eine Bandbreite an Regungen ein: Die anfängliche Skepsis der jüngeren Schwester gegenüber Rosie weicht der Erleichterung, unter die sich bald eine Art Eifersucht mischt. Die irritierende Überzeichnung einer scheinbar von ihrer neuen Pflegerin begeisterte Mutter – so etwa, wenn sie nun auf einmal Spaß am Morgensport hat, der gegenüber ihrer Tochter ausblieb – wird gebrochen, als die Ältere konstatiert:
Sie will dir nicht zur Last fallen.
Dieses Satz ist nötig, um der nicht auf der Bühne repräsentierten Mutter gerecht zu werden. Der Spagat zwischen der Fokussierung auf die Angehörigen und der darunter nicht gänzlich verschwindenden Perspektive der Mutter gelingt an dieser Stelle.
Während sich die Grenzen zwischen menschlichen und maschinellen Möglichkeiten immer mehr aufzulösen drohen, werden neue Streits unter den Schwestern entfacht. Die Jüngere bleibt allein auf der Bühne zurück. Nicht sichtbar, aber handlungsbestimmend sind jedoch Rosie und die Mutter. Denn nachdem sie zunächst aus dem Zimmer, in dem sich diese beiden aufhalten, ausgesperrt ist, erfahren wir, was sie schließlich erblickt.
Dunkelheit. Licht. Auf drei Stühlen sitzen die Schwestern und Rosie zum Verhör. Wie es zum Tod der Mutter habe kommen können? Rosie muss die Regungen und Bedürfnisse der Mutter interpretiert und zu einem letalen Schluss gekommen sein. „Wer ist denn Schuld?“, bleibt offen. Nicht jedoch die Diagnose der jüngeren Schwester über die Maschine Rosie: „Keine Reue“, sind die letzten Wort des Stücks und entlarven jeglichen früheren Eindruck maschineller Empathie als Farce.
An mehreren Stellen arbeitet die Inszenierung mit Überzeichnung. Betrachtet man das Bühnenspiel jedoch als individuelle Situation des Möglichen, so ergibt sich die Geschichte zweier Schwestern, die verschiedene Perspektiven auf ihre konkrete Situation einnehmen, durchbuchstabieren und schließlich ebenfalls Opfer des Schwarzen Schwans werden, den sie in ihr Leben und in ihre Wohnung geholt haben. Die immer aktueller werdende Frage nach KI-gesteuerter Unterstützung in der Care-Arbeit wird eindrücklich und facettenreich auf die Bühne gebracht. Die durchaus ambivalente Gestaltung maschineller Unterstützung wird dann problematisch, wenn sie zum Ersatz werden soll. Das vor allem aus älteren Generationen bestehende Publikum lohnt das kurzweilige Stück mit Applaus und anerkennenden Worten.
Schwarze Schwäne
Von Christina Kettering
Besetzung: Fabia Matuschek, Elisa Seydel, Merle Wasmuth
Regie und Bühne: Anne Bader
Kostüm: Nina Kroschinske
Komposition: Matthias Schubert
Dramaturgie: Lisa Kerlin
Mehr Informationen unter SCHWARZE SCHWÄNE – Volkstheater Wien
Fotos: © Marcel Urlaub