Burgtheater /// 27. September 2020 /// Das Himmelszelt
Im Stück „Das Himmelszelt“ bekommt man*frau einen Eindruck über die gesellschaftlichen Fesseln von Frauen im 18. Jhdt.: gefangen im Rechtssystem, der Ehe und im eigenen Körper. Wer ein frauenrechtlich genugtuendes Stück erwartet, wird enttäuscht. Aber genau darin liegt die Stärke des Abends: er will nicht gefallen.
England 1759, der Komet Halley fliegt um die Erde und alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Zeitgleich wird die Angeklagte Sally Poppy (großartig gespielt von Marie-Luise Stockinger) zu Tode verurteilt. Da sie beteuert, schwanger zu sein, werden zwölf Frauen als Geschworene in eine Matronenjury berufen, um über die Wahrheit dieser Behauptung zu urteilen – und somit über den Tod oder das Leben von Sally Poppy zu entscheiden. Da im 18. Jahrhundert laut Gesetz kein Ungeborenes getötet werden durfte, diente eine Schwangerschaftsbehauptung nicht selten als Ausweg vor einem Todesurteil. Bis 1920 war die Matronenjury als Urteilsinstrument die einzige Möglichkeit für Frauen an einer Rechtsprechung teilzunehmen. Dementsprechend sind die “Matronen” in Hinblick auf das Rechtssystem unerfahren und ungebildet, was im Stück raffiniert dargestellt wird.
Jedoch nicht nur das Unwissen über das Rechtssystem macht eine Beurteilung der Wahrheit fraglich. Alle zwölf Frauen sind von ihren persönlichen Hintergründen beeinflusst, die nach und nach ans Tageslicht rücken. Die vielen Wendungen und Überraschungen erzeugen nicht nur Spannung, sondern zeigen ein tiefgehendes Problem auf. Jede individuelle (Leidens-)Geschichte hat einen gemeinsamen Nenner: das patriarchale System, das Frauen Handlungsmacht und Mitsprache verwehrt. Genau deshalb kommt es zu keinem Schulterschluss zwischen den Frauen. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen, um in dieser einmaligen Situation mit ihrer Stimme Macht ausüben zu können, egal ob für oder gegen Sally.
„Mehr haben wir nicht, als den Raum hier, den Himmel da draußen und unsere Würde darunter.“
Selbst wenn es zu einer Einigung über das Urteil kommt, wird deutlich, wie wenig das Wort der weiblichen Geschworenen zählt, wenn andere Interessen mehr wiegen als die Wahrheit. In vielerlei Hinsicht werden Parallelen bis in die heutige Zeit sichtbar, sei es im Zusammenhang zwischen Rechtssystem und Korruption, oder bei patriarchal geprägten Strukturen in gesellschaftsrelevanten Institutionen. Der Komet Halley wird uns vermutlich das nächste Mal 2061 umkreisen. Man*frau darf gespannt sein, auf welche Welt er dann herunter blickt.
Fazit: Tina Lanik inszeniert gekonnt ein Stück, das die Frage aufwirft, ob ein Zusammenhalt zwischen Frauen in einer so ungerechten Welt überhaupt möglich ist. Denn in einer Zeit, in der Frauen auf ihr Dasein als Ehefrau und Mutter reduziert wurden, war es schwer sich der patriarchalen Sozialisierung zu entziehen. Ein einprägsamer Abend – spannend von Beginn bis Schluss mit mehreren Gänsehautmomenten und untermalt von einem tollen Bühnenbild und großartigen Schauspieler*innen.