Burgtheater /// 22. April 2023 /// Drei Winter
In Tena Štivičić‘ Drei Winter ist das Persönliche politisch und das Politische persönlich. Für „100 Jahre Aufruhr“ (Štivičić) in der kroatischen Geschichte gilt: Plus ça change, plus c’est la même chose.
Winter 1945. Ruža Kralj (Nina Siewert in einer Doppelrolle), die nicht erst der Partisanenkrieg gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht hart gemacht hat, zieht mit ihrer Familie in jenes Zagreber Wohnhaus, in dem ihre Mutter als Dienstmädchen österreichisch‑ungarischer Adeliger einst grausam behandelt wurde. Die Tochter des enteigneten Vorbesitzers, eines Nazi‑Kollaborateurs (Barbara Petritsch), huscht wie ein aus einer anderen Epoche geworfener Schatten durch das Gemäuer. – Winter 1990. Zu Grabe getragen wird mit der Matriarchin Ruža das Projekt eines panethnischen und sozialistischen Jugoslawiens, für das sie ihr Leben lang eingestanden hat. – Winter 2011. Kroatien hat soeben den EU‑Beitrittsvertrag unterzeichnet. Der Efeu um das alte Haus ist verschwunden, dafür treibt der Neoliberalismus Blüten, auch in der Familie Kralj (subtil verbittert: Zeynep Buyraç, Regina Fritsch, Norman Hacker, Nina Siewert, Andrea Wenzl).
Tena Štivičić‘ Generationenepos Drei Winter, das Martin Kušej im Burgtheater inszeniert, handelt von Menschen, die sich und einander nicht anders als vor der Folie der Ideologie begreifen können. Alles Tun und alles Lassen wird misstrauisch beäugt und kann jederzeit zum Anklagepunkt erhoben werden. In besonderem Ausmaß trifft diese weltanschauliche Überkodierung die Frauen der Familie, deren Leben oberflächlich betrachtet unterschiedlicher nicht sein könnten – und die doch mit den immergleichen Entscheidungen zum Umgang mit der Abhängigkeit gegenüber Männern konfrontiert sind.
Štivičić schreibt naturalistische Dialoge, die vor allem zu Anfang des Stücks manchmal etwas zu eindeutig geraten. Das ist wohl zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass dem Wiener Publikum über die dreieinviertel Stunden Laufzeit auch ein Schnellkurs in kroatischer Geschichte vermittelt wird. Mit Fortschreiten des Abends, sobald diese wesentlichen historischen Parameter festgelegt sind, löst sich die Sprache der Figuren jedoch aus ihrer Abgeklärtheit. Sie wird gleichzeitig fragiler und gewaltvoller, um sich endlich einzugestehen, dass sie den aus der familiären und nationalen Vergangenheit erwachsenden Traumata nicht beikommen kann.
Die Aufnahmen, die Kušej in Schwarz-Weiß über die verkrampfte Teilnahmslosigkeit der Gesichter und das sachliche Bühnenbild von Annette Murschetz flackern lässt, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Datierung um Jahrzehnte. Dennoch ist der Krieg, den sie abbilden, derselbe: Winter 1918, Winter 1944, Winter 1991, Winter 2023 – eine einzige, erdrückende Gegenwart.
DREI WINTER
von Tena Štivičić
Mit Nina Siewert, Andrea Wenzl, Norman Hacker, Regina Fritsch, Zeynep Buyraç, Maximilian Pulst, Daniel Jesch, Barbara Petritsch, Branko Samarovski, Laura Diego Skladana, Alina Foltyn, Anna Sebök, Anouk Aimée Auer, Chiara Bauer-Mitterlehner, Sofi Gavril, Johannes Brandweiner, Laurenz Haider, Niklas Schrade, Tilman Tuppy, Sylvie Rohrer | Regie: Martin Kušej | Bühne: Annette Murschetz | Kostüme: Heide Kastler | Musik: Bert Wrede | Licht: Reinhard Traub | Video: Tobias Jonas | Dramaturgie: Jeroen Versteele
Mehr Informationen hier: https://www.burgtheater.at/produktionen/drei-winter
Nächste Vorstellung: Mi 02.05. 19:30 Uhr
Titelfoto © Matthias Horn