Theater in der Josefstadt /// 28. April 2022 /// Leopoldstadt
Die Josefstadt führt uns in “Leopoldstadt” in die Welt einer jüdischen Familie, die das 20. Jahrhundert durchlebt, bedient sich dabei aber vieler Klischees.
Insgesamt werden in “Leopoldstadt” gute zwei Dutzend Figuren vorgestellt, für deren Verständnis das Programmheft wichtig ist, auch wenn sie häufig versuchen, ihre eigenen Verwandtheitsgrad zu erklären. Die Familie Merz/Jakobovicz repräsentiert das assimilierte jüdische Großbürgertum zwischen Jahrhundertwende und Holocaust. Sie mischt christliche mit jüdischen Traditionen, ist aber dennoch Antisemitismus ausgesetzt, leidet unter den wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs und wird durch den Holocaust dezimiert. 1955 kommen die letzten Überlebenden zusammen.
“Leopoldstadt” wurden vom US-Amerikaner Tom Stoppard geschrieben, der eigentlich für komödiantische Texte bekannt ist. Er verarbeitet in seinem Stück seine eigene Erfahrung; seine Geschichte gleicht jener Leos, der nach dem Tod seines Vaters von einem Briten adoptiert wurde und sich seiner jüdischen Herkunft lange nicht bewusst war.
Obwohl die Hintergründe zweifelsfrei gut recherchiert sind, wird die Entfernung des Autors zu Österreich deutlich. Zum einen sind manche historische Fakten skeptisch zu sehen: So ist es etwa unwahrscheinlich, dass die gutbürgerliche Familie am Schwarzenbergplatz in Bürger*innenkrieg Artelleriegeschützen ausgesetzt war. Die Verortung der Familie in das Wien der Jahrhundertwende mündet in einem Namedropping, um jede bedeutende Person dieser Epoche zumindest einmal zu erwähnen. Da wird das Porträt von Gretl von Mahler gemalt, Schnitzlers “Reigen” herumgereicht, Ludwig besucht einen Mathematikerkongress und ein anderes Familienmitglied Sigmund Freud auf.
Trotz der großen Anzahl der Charaktere ist die Handlung leicht verständlich und kurzweilig. In der ersten Hälfte sind auch komödiantische Elemente spürbar und die Diskussionen zu Themen wie Assimilation, Antisemitismus, Zionismus und die Überlebensfähigkeit Österreichs sehr interessant. Im Vergleich dazu erscheint der zweite Teil jedoch inhaltsleer. Zudem perpetuiert die da geäußerte Pointe zum einzigen zwischenmenschlichen Handlungsstrang das Bild der perfekten Familien, die im wahrsten Sinne des Wortes nur der Tod scheidet.
Unter der Oberfläche dieser Familie wird eine genaue Rollenteilung sichtbar: Es sind nur die Männer, die die politischen Diskussionen führen, der Fokus der Frauen ist auf das künstlerische und Liebesleben gerichtet. Es sind auch die Frauen, die naiv in die Zukunft blicken, während manche Männer das Grauen ahnen.
Neben den veralteten Rollenbilder kommt es auch zur jüdischen Stereotypisierungen: Nathan spielt 1955 den Juden, der auf eine aggressive Art die Überlebenden kritisiert, begleitet von einem verrückten Lacher. Noch problematischer ist jedoch das zweimalige komplett unreflektierte Aufgreifen des antisemitistischen Klischees der jüdischen Gier.
Es ist ein wichtiges Stück, jedoch auf ein nicht-österreichisches Publikum ausgerichtet. Zu oberflächlich die Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte, zu direkt die Botschaften, zu wenig bewegend die Einzelschicksale. Den Spiegel auf die Verantwortlichkeit Österreichs halten die im Ausland lebenden vor, in dieser Hinsicht charakterisiert Tom Stoppard die Aufarbeitung der Nazizeit gut.
LEOPOLDSTADT
Tom Stoppard
Österreichische Erstaufführung
Regie: Janusz Kica | Bühnenbild und Kostüme: Karin Fritz | Musik: Matthias Jakisic | Dramaturgie:
Matthias Asboth | Licht: Manfred Grohs
Mit: Marianne Nentwich | Herbert Föttinger | Martina Stilp | Maria Köstlinger | Ulrich Reinthaller | Susa Meyer | Marcus Bluhm | Alexandra Krismer | Oliver Rosskopf | Alma Hasun | Silvia Meisterle | Sona MacDonald | Susanna Wiegand | Fiona Ristl | Anna Laimanee | Roman Schmelzer | Martina Ebm | Oliver Huether | Paul Matić | Patrick Seletzky | Jakob Elsenwenger | Michael Dangl | Tobias Reinthaller | Raphael von Bargen | Joseph Lorenz | Emma Trifu / Carla Unger | Clara Bruckmann / Ariana Stöckle | Theo Kapun / Paul Eilenberger | Cornelius Bruckmann / Philipp Gruber-Hirschbrich | David Stöckle / Samuel Fischer | Markus Lipp
Mehr Informationen hier: https://www.josefstadt.org/programm/stuecke/stueck/leopoldstadt.html
Fotos: © Moritz Schell