Burgtheater /// 6. Dezember 2024 /// Liliom
Philipp Stölzl inszeniert Ferenc Molnárs Liliom irgendwo im Nirgendwo zwischen Dünen, Plattenbauten und amerikanischen Träumen – voll immersiver Gewalt dank hoher cinematischer Präzision.
Erst war Liliom als Ausrufer beim Ringelspiel des Praters bekannt, bis er sich in einen Streit zwischen seiner Arbeitgeberin und dem jungen Mädchen Julie einmischte und für seine Courage mit der Entlassung belohnt wurde. Beschäftigungslos geworden, nimmt er Julie zur Frau, die bald darauf ein Kind erwartet. Liliom plant verzweifelt einen Raubüberfall, um seine Familie ernähren und nach Amerika auswandern zu können, doch der Plan misslingt und das letzte Fünkchen Hoffnung stirbt. Es bleibt nur noch der Tod, der allerdings auch kein Ende all der Plackerei bedeutet…
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Lebendige Kinoleinwand
Liliom (Stefanie Reinsperger) liegt schluchzend am Boden. Sogar der Selbstmord gelingt ihm nicht sofort. Er umklammert das fatale Messer, das noch in seinem Körper steckt und starrt gen Himmel.
Zwei Polizisten (Dunja Sowinetz, Stefko Hanushevsky) stehen plaudernd in der Nähe beisammen und würdigen den Sterbenden bald kaum eines Blickes mehr. Sie meinen’s ja nicht bös‘, sie haben bloß Wichtigeres im Kopf, beispielsweise ihr Gehalt.
Die himmlischen Heerscharen hingegen sehen alles, aber können nichts verhindern: Zwei in lange schwarze Mäntel gehüllte Engel mit federbesetzten Flügeln (Norman Hacker, Tilman Tuppy) begleiten Liliom auf Schritt und Tritt. Sie scheinen geradewegs dem Himmel über Berlin entflogen, aber sind wie bei Wim Wenders außerstande, den Entschluss zum Selbstmord zu durchkreuzen: Still und stumm stehen sie als tatenlose Trauergäste Spalier, als Liliom seinen letzten Gang tut und zeichnen sich als Silhouetten in Jugendstilmanier vor dem Rot der Abenddämmerung ab – nur einer von vielen bildgewaltigen Momenten des Abends, die wie kurz zu Photographien erstarrende Kinosequenzen vorbeiziehen. Philipp Stölzl überträgt mit dieser Liliom-Inszenierung Elemente der Filmregie auf die Theaterbühne, ein visuell äußerst gelungener Transfer!
Der Hyperrealismus des grandiosen Bühnenbildes wird durch die Verpflanzung Lilioms in eine karge Dünenlandschaft mit einer Plattenbausiedlung im Hintergrund verfremdet. Wienerisch spricht man hier an der Küste trotzdem und auch der Widerschein bunter Kirmeslichter am Himmel erinnert fern an Wurstelpraterstimmung.

„Er war kein guter Mann“?
Stefanie Reinsperger verkörpert Liliom oft als ein brutales Ungeheuer, das einem Woyzeck gleich kreatürlich handelt und sogar die Frau (Maresi Riegner) schlägt. Und doch – immer wieder blitzt es in Reinspergers Spiel kurz, aber brillant hervor – er ist ein Mensch und hat ein Herz. Es ist nur meistens schrecklich leer, leer wie die struppige Küsteneinöde. Denn Liliom ist der Weg zum Ringelspiel, seiner eigentlichen Heimat, versperrt. Er muss sich um Frau und Kind kümmern, aber er scheitert an dieser Aufgabe. Und er zeigt keine Reue, weder im Diesseits noch im Jenseits.
Sogar, als Liliom nach seinem Tod von den Engeln eine zweite Chance erhält und seine mittlerweile 18 Jahre alt gewordene Tochter (Fabia Matuschek) und ihre Mutter auf der Erde besuchen darf, gelingt es ihm nicht, etwas Schönes zu tun. Obwohl er es sich fest vorgenommen hat. Doch sein Besuch endet stattdessen damit, dass er beinahe die eigene Tochter geschlagen hätte. Liliom lernt nicht aus Fehlern. Aber er weiß auch nicht, was Moral ist.
Die Grenzen der Sprache und die Macht des Körpers
Man fordert Liliom auf, Rechenschaft abzulegen. Gründe zu nennen, warum er so brutal gegenüber der Frau war. Liliom erklärt sich dreimal und immer erklärt er das Vergehen anders. Er weiß wohl selbst nicht, warum er so handelte, wie er handelte. Er folgt eben seinem Herzen. Aber das versteht niemand. Außer Julie.
Julie liebt Liliom, aber sie kann es nicht aussprechen. Aus Scham. Und auch sie kann ja nicht erklären, wieso sie es tut. Es versteht sie ja niemand. Auch Liliom nicht.
Liliom ringt mit der Sprache und mit der Welt. Kurz vor seinem Tod bemüht er sich mit letzter Kraft, vor Julie die richtigen Worte zu finden und lässt sie dabei kein einziges Mal mehr zu Wort kommen. Aber Liliom beherrscht mehr die Sprache seines wuchtigen Leibs als die seiner Zunge.
Mit gesenkten Schultern, gebeugtem Rücken, vorgestrecktem Hals und leicht nach hinten hängenden Armen schleppt sich Liliom durch sein bedrückendes Leben. Sein Blick oft verloren, fast verzweifelt, als suche er etwas, das längst unerreichbar ist. Doch wenn er Julie in die Arme schließt, wird die Verlorenheit von einer beängstigenden Intensität abgelöst. Seine Umarmungen sind brutal, erschreckend in ihrer Wucht. Sie offenbaren eine innere Zerrissenheit, eine ungestüme, unausgesprochene Wut auf die Liebe, auf das Leben selbst.
