Burgtheater /// 29. September 2024 /// Schachnovelle
Wer hätte geahnt, dass neben einem karierten Brett auch eine Klaviatur den Untergrund für eine Schachpartie bilden kann? Für eine Partie, die sich haarscharf an der Grenze zwischen tänzerischer Heiterkeit und bitterem Ernst bewegt. Nils Strunk inszeniert und spielt Stefan Zweigs Schachnovelle als ein fulminantes Kunstwerk aus Klang, Rhythmus und Sprache, das nicht nur aus einer Welt von Gestern tönt.
Es ist, als gäbe es an Bord des Dampfers auf der Fahrt nach Buenos Aires keine Farben mehr: Schwarz und weiß schimmern die Reihen der Klaviertasten und der Schachfiguren auf dem Spieltisch im Bühnenzentrum, über den schwarzen Anzughosen leuchten blütenweiß die Smokingjacketts und Matrosenhüte, die schwarzen Kohlezeichnungen der Schiffsbullaugen werden von weißen Kreisen umgeben. Dunkel ist es im Parkett, nur schmale Lichtkegel gleiten durch den Raum. Wäre man taub, könnte man glauben, in einen gespenstischen Alptraum geraten zu sein. Aber schon spielt die Schiffskapelle (bestehend aus Martin Ptak, Hans Wagner und Jörg Mikula) einen flotten Tangorhythmus, schon schwingt sich Nils Strunk auf den Klavierhocker, haut in die Tasten und beginnt, einen seiner vielen Songs zu singen, die durch den Abend begleiten.
Zweigs Novelle bildet dabei nicht nur das Gerüst der Handlung, sondern sie wird vom einzigen Schauspieler Nils Strunk oft wörtlich rezitiert und nachgespielt. Durch blitzschnelle Stimmen- und Brillenwechsel schlüpft er virtuos im fliegenden Wechsel mal in den Erzähler, mal in das von fieberhafter Ungeduld geschüttelte Nervenbündel des Dr. B., mal in die unerschütterliche Präsenz des behäbigen Schachweltmeisters Mirko Czentovic, der sich schließlich auf eine Schachpartie gegen jenen Dr. B. vor den Augen einer Schar gebannter Mitreisender einlässt.
„Das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte.“ So schrieb es Stefan Zweig vor über 80 Jahren – und am Premierenabend wird’s Ereignis. Hier trifft die Sprache des Jazz auf die Sprache der Literatur, doch heraus kommt kein Chaos, sondern große Kunst. Nils Strunk wagt in seiner Vierfachrolle als Regisseur, Schauspieler, Komponist und Musiker mit der Schachnovelle ein Experiment, das in formvollendeter Weise aufgeht: Text und Ton ergänzen und interpretieren einander: Die Musik untermalt nicht nur die Schach- und Gedankenzüge, sie tritt stellenweise selbst an die Stelle des Spiels, etwa, wenn alle drei Bandmitglieder und Nils Strunk gleichzeitig die Klaviertasten bearbeiten und damit Simultanschach simulieren, oder wenn während einer Rückblende die Spielzüge des jugendlichen Czentovic zu filigran-ästhetischem Clair de Lune-Impressionismus erfolgen, während das Schachgeschick seines ungelenken Gegners durch schwerfällige Basstöne karikiert wird.
Die Musik charakterisiert und kommentiert: So erklingt nach der Vorstellung des Österreichers Dr. B. der Wiener Blut-Walzer leise wie aus weiter Ferne, eine nostalgische Erinnerung an eine unbeschwerte Jugend, in der es noch leicht war, ein Europäer zu sein. Die deutsche Nationalhymne kippt in eine Moll-Modulation, als der Erzähler auf die deutsche Sprache zu sprechen kommt. Auf seine Sprache, die Hitler ihm verboten hat, wie er explizit betont – eine der in dieser Inszenierung seltenen Erweiterungen des Originaltextes, die sich Strunk hier gestattet, um Stefan Zweigs Schicksal als Autor anzudeuten, dessen Schriften im Nationalsozialismus verboten und verbrannt wurden.
Die Beklemmung der Isolationshaft Dr. B.s im Hotel Metropol wird durch die auf verschiebbaren Kulissen präsentierten Zeichnungen Herbert Nauderers bildhaft. Als Dr. B. nach seinem Zufallsfund einer Sammlung von Meisterpartien versucht, imaginär Schach gegen sich selbst zu spielen und sein Ich dafür in zwei Hälften aufspaltet, als aus seiner Spiellust ein Spielzwang und schließlich eine Schachvergiftung wird, steigert sich die fesselnde Dynamik der Inszenierung weiter und weiter – bis zum plötzlichen Zusammenbruch. Auch als Dr. B. bei der finalen Schachpartie gegen Czentovic erneut in geistige Verwirrung abzugleiten droht, spiegelt sich seine überschäumende Aufregung im an Fahrt gewinnenden Tempo der Musik und in Nils Strunks immer rasenderen Sätzen und Gesten.
Erst der letzte Song erlaubt eine Flucht aus dem schwindelerregenden Sog der Schachvergiftung (Songtexte: Lukas Schrenk). Remember, ruft der Erzähler Dr. B warnend zu und kann ihn im letzten Moment vor dem erneuten Wahnsinn retten. Remember, ruft Stefan Zweig. „The ocean is closed.“ Gibt es noch einen Ausweg? Stefan Zweig sah keinen anderen mehr als den Freitod: „Europe is lost, they’re blowing it up.“
Doch im Publikum der Welt von Heute ist trotz des Ausgangs der Nationalratswahl am Premierenabend noch mehr Hoffnung verbreitet – begeisterte Standing Ovations und lautstarker Jubel sind die Antwort auf dieses vergnüglich-ernste Spiel aus Schwarz und Weiß, mit allen Zwischentönen.
DIE SCHACHNOVELLE von Stefan Zweig
Regie und Textbearbeitung: Nils Strunk, Lukas Schrenk | Musik: Nils Strunk | Musiker: Martin Ptak, Hans Wagner und Jörg Mikula | Songtexte: Lukas Schrenk | Bühne: Maximilian Lindner | Kostüme: Anne Buffetrille | Licht: Reinhard Traub, Roman Sobotka | Dramaturgie: Rita Czapka
Mehr Informationen unter Schachnovelle – Burgtheater Wien
Fotos: © Tommy Hetzel