Halle E im Museumsquartier /// 12. Mai 2019 /// The Scarlet Letter
Wer im Theater vor allem aufwendig konstruierte Geschichten und ausgiebige, Dialoge schätzt, kommt bei dieser Inszenierung nicht auf seine Kosten. Denn hier steht Angélica Liddells Darstellung im Vordergrund, die nur die nackte Wahrheit von The Scarlet Letter zeigt.
Der Roman The Scarlet Letter von Nathaniel Hawthorne erzählt die Geschichte einer Frau namens Hester, die als Ehebrecherin mit einem roten A auf ihrer Kleidung markiert und von der Gesellschaft verstoßen und geächtet wird. Diesen Stoff hat sich Angélica Liddell zur Inspiration für ihr Stück genommen, was jedoch nur zu identifizieren ist, wenn man den Ausgangsstoff kennt. Ansonsten bleibt man am Ende eher ratlos zurück, ohne zu wissen, was eigentlich geschehen ist.
Im Fokus stehen wilde Choreografien mit mindestens acht nackten Männern, die schreien, herumkriechen, sich am Boden rollen, auf und ab springen, schwere Tische stemmen und diese auf ihren Schultern balancieren. Es werden tiefe Einblicke in die Physis des männlichen Körpers geboten, an Penissen gezogen und Finger in Körperöffnungen gesteckt. Bei diesem Stück gibt es absolut nichts, das den Grenzen der Scham unterliegt. Dass Angélica Liddell mit ihren Inszenierungen gerne provoziert, ist aber auch kein Geheimnis.
Man könnte die provokanten Choreografien in Hinblick auf die gesamte Inszenierung sicher vielseitig interpretieren, ich denke allerdings nicht, dass das den Sinn des Stückes widerspiegeln würde. Manchmal will Kunst einfach nur Kunst sein, ohne ihr die Absicht einer versteckten Botschaft aufzudrängen. Man muss nicht nur dem Menschen, sondern auch der Kunst ihre ganz eigene Diversität zugestehen: Andernfalls würde man ihr damit einen scharlachroten Buchstaben auf die Kleidung sticken.
Die Knappheit an Dialogen und das Fehlen einer strukturierten Geschichte ist in The Scarlet Letter kein Mangel, sondern eine Befreiung der Kunst, die nicht länger Konventionen folgen will. Ob einer_m das zusagt und ob man sich 100-minutenlanges Penis-Geschwinge, begleitet von melodischen Klagegesängen und nur wenigen (aber erwähnenswert guten) Textpassagen anschauen möchte, muss wohl jede_r für sich selbst entscheiden. Es werden auf jeden Fall sehr viele, auch variierende Eindrücke unter dem Stern der Nacktheit geboten, die uneingeschränkte Sinndeutung ermöglichen.
Fazit: Selbst wenn Angélica Liddells The Scarlet Letter wohl nichts für Theatergänger_innen mit Liebe zu ausgefallenen Geschichten ist, ist es wohl ein Muss für aufgeschlossene Theater-Adrenalist_innen, die immer neue Spannung, Provokation und Grenzüberschreitung suchen. Die Inszenierung lässt auf jeden Fall viel Spielraum für Interpretationen, da sie noch mehr Fragen offen lässt, als sie überhaupt eröffnet.
THE SCARLET LETTER
Text / Regie / Bühne / Kostüm: Angélica Liddell
Inspiriert von: Der Scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne
Schauspiel: Joele Anastasi, Thomas Conor, Tiago Costa, Julian Isenia, Angélica Liddell, Borja López, Tiago Mansilha, Daniel Matos, Nuno Nolasco, Antonio Pauletta, Antonio L. Pedraza, Sindo Puche, Pietro Quadrino, Quentin Retzl, Thomas Sgarra, Isaac Torres, Philomène Troullier
Licht: Jean Huleu
Sound Design: Video Antonio Navarro
Inspizienz: Nicolas Guy Michel Chevallier
Assistenz Licht: Octavio Gomez
Bühnentechnik: Carlos Martínez
Produktionsleitung: Gumersindo Puche
Produktionsassistenz: Borja Lopez, Saite Ye
Kommunikation: Génica Montalbano
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Bildrechte: © Bruno Simao