Burgtheater Wien // 24. Oktober 2024 // TOTO oder vielen Dank für das Leben
Uraufführung von Sibylle Bergs 2012 veröffentlichtem Roman Vielen Dank für das Leben in einer Theaterfassung der Autorin, mit Live-Musik von Beni Brachtel, in der Regie von Ersan Mondtag.
Einsam in der Welt
1966 wird in einem kleinen kommunistischen Land ein Baby geboren, das keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale besitzt. Die alkoholkranke Mutter entscheidet auf dem Meldeamt, dass es sich um einen Jungen handle, nennt ihn “Toto” und gibt ihn kurze Zeit später ins Kinderheim. Dort lernt Toto, was es für ihn bedeutet, auf der Welt zu sein: Einsamkeit. Toto ist ein Außenseiter, wird wegen seines Körpers von den anderen Kindern gemobbt und später bei genauso versoffenen Pflegeeltern wie seine Mutter geschlagen. Doch Toto wird durch das Land getrieben, als ob es noch Liebe, Hoffnung und Mitmenschlichkeit gäbe. Er selbst ist das Gute in Reinform. Irgendwann entdeckt Toto für sich das Singen, das ihn fortan begleitet. Er flieht in die kapitalistische Bundesrepublik Deutschland, lebt in einer Kommune, lebt mit einem Gesangslehrer, wird operiert, lebt mit seiner Jugendliebe Kasimir, wird eine Frau, arbeitet im Altersheim und stirbt irgendwann. Sein Leben ist, wie die lakonischen Kapitelüberschriften in Sibylle Bergs Roman verdeutlichen, getrieben von einem “und weiter”, “und weiter”, “und weiter”.
“Und weiter”
Ersan Mondtag (Regie und Bühnenbild) setzt auf die Drehbühne des Burgtheaters ein verfallenes Gebäude, das so verfallen ist, wie die auf der Bühne agierenden Figuren. Nebelschwaden steigen auf, den Bäumen sind die Wipfel abgesägt und alles wirkt nur noch trostlos. Ob Sozialismus oder Kapitalismus: Dieser Trist bleibt den ganzen Abend auf der Bühne stehen. Einzig die großartige Beleuchtung (Licht: Rainer Casper, Videodesign: Luis Krawen) setzt diese Szenerie ab und zu in (trügerisch) hoffnungsvolle Sonnenstrahlen oder das grelle Neonlicht des (ebenso trügerisch) bunten Kapitalismus. Die Jahre vergehen und die Bühne dreht sich, dreht sich und zeigt immer wieder neue Stationen aus Totos Leben – Orte, an denen er nie sesshaft wird, nie wirklich willkommen ist, am Rande der Gesellschaft bleibt.
Sprechen und Singen
Gleich am Anfang der Inszenierung kommt Toto (Maria Happel) allein auf die Bühne und: Spricht nicht. Toto beobachtet und wird beobachtet, dann fängt er an zu singen (auf die Musik wird noch zu kommen sein). Damit ist der Rahmen für die Figur gesetzt. Toto ist schon immer als Beobachter dabei, selbst die eigene Geburt beobachtet er interessiert von der Seite. Zwar wird im epischen Modus von den anderen Figuren immer wieder erwähnt, dass Toto zu dieser oder jener Person was gesagt haben soll, doch auf der Bühne spricht Toto nicht. Seine Kommunikation mit der Außenwelt und das Verarbeiten der Beobachtungen funktionieren nur über die Musik. Zugleich werden mit den Kostümen (Teresa Vergho) schöne Nuancen gesetzt. Nicht nur Toto ist in einer Art Ganzkörperkokon, der die Körperformen undefiniert macht, sondern auch die anderen Kinder haben Kleider an, die ihre Körper geschlechtlich uneindeutig erscheinen lassen. Nicht zu vergessen ist zudem die genderfluide Besetzung und Kostümierung der Hebammen. In der gezeigten Gesellschaft wird Toto ausgegrenzt, während zugleich auch die anderen Menschen sich immer wieder jenseits der vermeintlichen gesellschaftlichen Konventionen bewegen, was die Isolation Totos nur noch erschreckender macht. Ikonisch für diesen Zustand ist Kasimir (Bruno Cathomas): Er ist ein ehemaliger Kinderheimkollege Totos, homosexuell und damit Teil einer Randgruppe (wenn auch zwischenzeitlich reich geworden) – zugleich schlägt er aber am brutalsten auf Toto ein und ist für Totos erbärmliche gesundheitliche Lage, den langsamen Tod von Anfang an maßgeblich verantwortlich. Schlimm ist, dass er zu Beginn der Inszenierung aus dem Publikum auftritt und sich als einer von uns, witzelnd, schulterklopfend in einer Loge eingerichtet hat. Ein kleiner Wink Richtung Publikum, dass auch wir die Ausschlussmechanismen unserer Gesellschaft kritisch betrachten sollten?
Glänzendes Ensemble
Toto und Kasimir sind jedenfalls die einzigen Figuren, die kontinuierlich besetzt sind und sie sind großartig. Maria Happel bringt gestisch und mit einer tollen Stimme eine Figur auf die Bühne, die herzergreifend gut ist. Das ist eine hervorragende Leistung, (fast) ohne ein Wort „nur“ zu sprechen. Bruno Cathomas zeigt Kasimir als eine sich entwickelnde Figur, deren Hass so vielschichtig wie unverständlich ist – mit seiner fein betonenden Stimme modelliert er diese Schichten der Einsamkeit, Zuneigung und Angst einzigartig. Und auch das restliche Ensemble ist berauschend. Alle spielen pointiert die wechselnden Rollen und geben ihnen eindeutige Haltungen. Dass diese Haltungen in ihrer Eindeutigkeit manchmal etwas überspitzt sind und sich an der Grenze zu Klassismus (vor allem die alkoholisierten Pflegeeltern) bewegen, stört im ersten Moment, ist aber passend zu Sibylle Bergs Roman. Die Inszenierung ist nicht empfehlenswert, wenn man diesen schrill-schrecklichen Text nicht mag.
Musik
Bei einem solchen Abend die Musik erst am Ende zu erwähnen, ist fast ein Vergehen. Beni Brachtel komponierte für die Uraufführung eigens Klänge von Musical, Pop bis Kurt Weill, dessen moralisierender Sound der Dreigroschenoper präsent ist. Auch die Klangwelten im akustischen Hintergrund sind, wenn auch kitschig, irgendwie schön. Sie sind schön, weil sie einen Sinn haben. So wenig Toto mit den anderen Figuren spricht, antwortet sie plötzlich singend auf das Wolfsgeheul oder das Muhen der Kühe, um die sie sich täglich bei ihrer Pflegefamilie kümmert. Die Inszenierung ist durchsetzt von einer fein komponierten Kunstsprache, die in ein exzessives, mitreißendes Musical ausschlägt (Choreographie: Tabea Martin).
Toto spricht
Während zwischendurch Kasimir eindeutig das Narrativ in der Hand hält und alle Handlungen diktiert (ohne zu viel zu verraten: er korrumpiert den Gesangslehrer aber auch den Arzt), spricht die letzten Worte, die zugleich ihren Tod beschreiben, Toto selbst. Nach allem Gesang und allem Beobachten stehen die letzten Worte endlich Toto selbst zur Verfügung (Dramaturgie: Sarah Lorenz). Das Publikum kann nur aufatmen und froh sein, dass wohl niemand der Zuseher*innen so ein Leben wie Toto hat: “Vielen Dank für das Leben” – tosender und langer Premierenapplaus!
TOTO oder vielen Dank für das Leben von Sibylle Berg nach ihrem Roman Vielen Dank für das Leben
Regie und Bühne: Ersan Mondtag | Künstlerische Mitarbeit: Lorenz Stöger | Kostüme: Teresa Vergho | Komposition und musikalische Leitung: Beni Brachtel | Videodesign: Luis Krawen | Choreografie: Tabea Martin | Licht: Rainer Casper | Dramaturgie: Sarah Lorenz
Mit: Bruno Cathomas, Gunther Eckes, Maria Happel, Sabine Haupt, Alexandra Henkel, Daniel Jesch, Dietmar König, Annamária Láng, Elisa Plüss, Markus Scheumann
Komparserie: Laura Diego, Marlene Greiner, Julian Gruß, Jonas Langlet, Kilian Magrutsch, Marie-Sophie Tschak, Hannah Wassner, Amelie Lucia Wassner
Orchester: Christoph Huber, Lukas Leitner, Angel Vassilev, Christian Wendt, Bernd Satzinger, Sasa Nikolic, Roman Baumgartner, Anna Winter, Zala Tirs, Lubomir Gospodinov, Richie Winkler, Claire Quezel, Johanna Kaniewska-Eröd, Maria Salamon, Julia Rubanova, Flora Geißelbrecht, Simon Schellnegger, Barbara Riccabona, Arne Kirchner
Fotos: © Tommy Hetzel
Weitere Informationen:
https://www.burgtheater.at/produktionen/toto-oder-vielen-dank-fuer-das-leben