Volkstheater /// 24.01.2025 /// Krankheit oder moderne Frauen von Elfriede Jelinek
Die Vampirinnen sind los auf den großen Bühnen Wiens! Im Volkstheater feierte Elfriede Jelineks Krankheit oder moderne Frauen eine fulminante Premiere. Anders als bei der Volkstheaterinszenierung 1990 blieben Skandale (damals wurde die Intendantin nahezu erwürgt) aus. Großes, buntes, engagiertes Theater war es dennoch.
Vampirinnen in der Literatur
Noch vor dem allseits bekannten Dracula-Roman Bram Stokers schrieb Sheridan le Fanu (1814-1873) seinen lesbischen Vampirroman Carmilla. Damit setzte er das Klischee der lesbischen Vampirin, das die vorherrschende heteronormative Ordnung stärken sollte, endgültig in die Welt. Eine inszenatorische Überschreibung von le Fanus Text wurde erst letzte Spielzeit am Schauspielhaus Graz unternommen. Dabei zeigte sich, dass der Umgang mit diesem hoch toxischen Material alles andere als leicht ist. Bei Jelinek sieht alles etwas anders aus. Ihre Carmilla ist zunächst, wie es sich für eine Frau in der heteronormativen Welt ihres Mannes gehört, keine Vampirin, sondern Hausfrau und Mutter. Sie kommt mit ihrem Ehemann Benno hochschwanger in die Frauen- und Zahnarztpraxis (was für eine Kombination!) des sich schrecklich omnipotent gebenden Herrn Dr. Heidkliff. Während der Ehemann sich selbst an seiner gottgleichen Zeugungskraft ergötzt, gebiert sie das sechste Kind und stirbt dabei. Die Krankenschwester Emily, die Vampirin und Verlobte Heidkliffs ist, macht die tote Frau durch ihren Biss ebenfalls zur Trägerin spitzer Eckzähne. Als Untote durchbrechen sie die patriarchalen Strukturen und negieren die Beschränkung der Frauen als Sex- und Reproduktionsobjekte. Jelineks Frauenfiguren widersprechen dabei den tradierten Vampirmythen. Sie sind keine Vampirinnen, wie die Dramaturgin Shalyn Hempowicz betont, die lüstern den Mann ausrauben wollen. Vielmehr werden sie erst von der patriarchalen Gesellschaft als vermeintliche Abnormalitäten in ihr Schattendasein gedrängt. Blutrünstig sind bei Jelinek die jämmerlichen Männerfiguren, die am Ende das eigentliche Blutbad anrichten.
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Abschaffung der Sparten … und Schauspieler*innen?
Regie führt Claudia Bauer, die nach den erfolgreichen Inszenierungen von Ernst Jandl (humanistää!) und Ingeborg Bachmann (Malina) nun einen dritten Text erstklassiger österreichischer Literatur auf die Bühne bringt. Passend zu Jelineks Text, der in den 90er Jahren als eine ganz neue Art des Theaters wahrgenommen wurde, setzt sich auch Bauer mit der Frage auseinander, was “Theater” eigentlich ist. Nick Romeo Reimann sagt als zwischen Mann und Frau stehender Conférencier gleich zu Beginn:
„Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob sie lebten. […] Die Schauspieler haben die Tendenz, falsch zu sein, während ihre Zuschauer echt sind. Wir Zuseher sind nämlich nötig, die Schauspieler nicht.“ (Elfriede Jelinek, Ich möchte seicht sein, 1984)
Der “Abschaffung der Sparten” (humanistää!) soll nun also die Abschaffung der Schauspieler*innen folgen? Nicht ganz: Neben den Spieler*innen bildet die Musik allerdings eine wesentliche Stütze der Inszenierung (Komposition: PC Nackt). Den von Jelinek in den 90er Jahren noch binär gesetzten Figuren stellt das Regieteam einen queer-feministischen Chor zur Seite: Und was für ein Chor das ist! Von Sprechgesang und Lauterzeugung bis zu barocken Klängen hat der Schmusechor alles zu bieten und ergänzt unter der Leitung von Verena Giesinger mit Live-Musiker Arpen Daks (Klavier und Elektronik) Jelineks Sprachexzesse. Chor und Musik setzen Akzente, durchdringen die Inszenierung und die Körper der Spieler*innen, die sich winden, nahezu tanzen und enorme körperliche Präzision zeigen.
Die Freude am Text …
All das korrespondiert schlüssig mit Jelineks Text. Wobei auch die Dramaturgie (Matthias Seier) hervorragende Arbeit geleistet hat, indem sie die bereits genannte Figur des Conférenciers einführt und ihm Sätze aus Jelineks Essay Ich möchte seicht sein (1984) und dem Theatertext Die Straße, die Stadt, der Überfall (2012) in den Mund legt. Auf diese Weise bekommt der Abend die theaterreflexive Rahmung: “Wer kann schon sagen, welche Figuren im Theater ein Sprechen vollziehen sollen?” (Ich möchte seicht sein). Die Textausschnitte gehen dabei fließend in die üppigen und mit Witz geschriebenen Regieanweisungen Jelineks über. Schon während des Einstiegsmonologs von Reimann ist das Publikum amüsiert. Eine kollektive Vorfreude auf das sich ankündigende Spektakel liegt in der Luft.
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… und an der Optik …
Mit den Kostümen durchwandert Andreas Auerbach die Jahrhunderte des Vampirismus. Von barocken Kleidern der kaltblütigen Mörderin Gräfin Báthory, die wesentlich zum Mythos des weiblichen Vampirs beitrug, bis zum eleganten Look des späten 20. Jahrhunderts und dem clownesken Outfit des Conférenciers ist alles dabei. In ihren wunderbaren Kostümen bewegen sich die Figuren auf einer von blutroten Tönen dominierten Bühne (Patricia Talacko, Licht: Ines Wessely). In der Mitte steht ein durchscheinender Korpus, der in einer seiner Einwölbungen das Praxiszimmer Dr. Heidkliffs beherbergt. Ein Eingang in das Innere des Korpus kann leicht als Vulva identifiziert werden – haben wir es mit einem riesigen abstrakten Frauenkörper zu tun? So scheint es. Ein Frauenkörper, in den die Männer gewaltvoll eindringen, den sie verwüsten und auf den in Form von gut eingefangenen Live-Videos männliche Perspektiven projiziert werden (Video: Max Hammel, Ulrike Schild). Schließlich ist es ein Frauenkörper, der (als Damenklo) zum Schutzraum für Carmilla, Emily und den gesamten Chor wird – mehr soll nicht verraten werden.
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Schauspiel-Abneigungen des Conférenciers zum Trotz:
Der Abend bietet neben dem tänzerisch-akrobatischen Einsatz des Ensembles ein hervorragendes Sprechschauspiel. Eilinghoff, Meier, Nowak, Stoyanov und Reimann glänzen, die Monologe sind rhythmisch perfekt einstudiert. Die parodistischen Haltungen sind in den schwierigen Dialogen (die Figuren sprechen mehr oder weniger aneinander vorbei), aber auch innerhalb einzelner Repliken klar ausgearbeitet. Wo es menschlich wird, ist Gefühl – aber nur ganz kurz, denn die Figuren sind ja zugespitzt und grotesk. Die Spieler*innen zeigen Freude an diesem Übermaß, das dennoch nicht platt wirkt, weil sie ernst nehmen, dass die Übertreibung und Gewalt irgendwo herkommen muss: Und zwar aus Menschen, leider.
Tosender Applaus zum Schluss für das gesamte Team, was für ein Abend. Für solche Inszenierungen, seicht und intellektuell anspruchsvoll zugleich, mit viel Übermaß, groben Pinselstrichen und doch filigranem Spiel, muss man ins Volkstheater Wien!
Krankheit oder moderen Frauen von Elfriede Jelinek
Mit: Elias Eilinghoff (Dr. Heidkliff), Annika Meier (Emily), Lavinia Nowak (Carmilla), Nick Romeo Reimann (Conférencier / Märtyrerin), Samouil Stoyanov (Dr. Benno Hundekoffer), als Bennos und Carmillas Kinder und Schmusechor: Alba Jona Becker, Nora Czapek, Nora Dejaco, Sabrina Eberl, Lavinia Lanner, Susanne Mlineritsch, Christine Tielkes, Barbara Zenker, Sänger*innen im Graben: Sebastian Abermann, Verena Giesinger, Jasemin Khaleli, Alexander Moser, Severin Stafflinger, Marlene Stocker, Christian Woltron | Live-Elektronik und Klavier: ARPEN DAKS | Live-Kamera: Ulrike Schild
Regie: Claudia Bauer | Bühne: Patricia Talacko | Kostüm: Andreas Auerbach | Komposition und musikalische Leitung: PC Nackt | Dirigat und Leitung SCHMUSECHOR: Verena Giesinger | Videoart: Max Hammel | Lightdesign: Ines Wessely | Dramaturgie: Matthias Seier
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Fotos: © Marcel Urlaub