Viennale 2024 // 17. – 29. Oktober 2024
Vom 17. bis 29. Oktober fand die Viennale – das größte Filmfestival Österreichs – zum 62. Mal statt. Zwölf Tage lang durfte ich ein breites Spektrum an Filmen erleben. In diesem Artikel gebe ich einen Überblick über die Werke, die für mich in Erinnerung geblieben sind.
Der Film C’est pas moi von Leos Carax eröffnete die Viennale 2024. In diesem 40-minütigen visuellen Essay entführt uns der französische Regisseur in seine persönliche Filmwelt. Mit Hilfe von Filmausschnitten aus seiner Filmographie, sowie Ausschnitten anderer Filme und Medien, kreiert er eine meditative Collage über seine Auffassung der Filmgeschichte. Der Film brilliert mit seiner visuellen, aber auch poetischen Gewalt. Ein perfekter Start für die Viennale.
Am zweiten Tag präsentierte der amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer seinen ersten Spielfilm The End.
Bekannt wurde Oppenheimer für seinen Dokumentarfilm The Act of Killing. Der Film thematisiert den Massenmord in Indonesien von 1965 bis 1966. Oppenheimer zeigt die Verantwortlichen des Massakers, wie sie voller Stolz die Morde nachstellen.
Der neue Film spielt hingegen in einer postapokalyptischen Welt. Wir begleiten eine reiche Familie, die sich in einen prunkvollen Bunker zurückgezogen hat und dort das gewohnte Leben in familiärer Atmosphäre fortsetzt. Zunächst gab es wohl die Idee, auch The End als Dokumentarfilm zu arrangieren. Oppenheimer begleitete einen reichen russischen Oligarchen, der sich einen luxuriösen Bunker bauen ließ. Inspiriert von der Geschichte des Oligarchen schrieb er das Drehbuch zu The End. Herausgekommen ist dabei ein Familiendrama-Musical. Leider kann dieser Film mit Oppenheimers Dokumentarfilmen nicht mithalten. Das Musical-Element überzeugt nicht. Durch die klischeehaften Musical-Nummern sticht die Musik nie hervor. Die Charaktere sind eintönig und dadurch komplett uninteressant. Das brillante Schauspiel von Tilda Swinton und Michael Shannon hilft dem Film leider nur sehr wenig.
Als nächstes habe The Shrouds, vom Meister des „Body-Horrors“ David Cronenberg gesehen. Es ist einer der persönlichsten Filme des prestigeträchtigen Filmemachers. Nachdem seine Frau an Krebs starb, schrieb er das Drehbuch, um sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen. Ebenso wie Cronenberg hat auch der Hauptcharakter seine Ehefrau verloren. Entstanden ist ein Film, der sich jeder einfachen Zusammenfassung entzieht – eine komplexe Verschmelzung von Genres und Themen. Der Film lässt sich unter vielen Subgenres einteilen. „Body-Horror“, sowie „Erotik- und Verschwörungsthriller“ ist für Cronenberg nichts Neues. Aber in The Shrouds verbindet er diese Elemente wie nie zuvor. The Shrouds war mit Abstand der originellste Film, den ich auf der Viennale gesehen habe. Es ist ein Film, den nur ein 80-jähriger Cronenberg machen kann.
Weiter geht es mit einem Film, in dem eine verstorbene Ehefrau ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. In Between the Temples von Nathan Silver geht es um den jüdischen Kantor Ben Gottlieb (Jason Schwartzman). Nachdem er seine Frau frühzeitig verlor, schlittert er in eine Glaubenskrise. An seine Tiefpunkte trifft er auf seine ehemalige Musiklehrerin Carla Kessler (Carol Kane). Carla entscheidet sich dafür, ihre Bat-Mizwa nachzuholen und Ben begleitet sie als Kantor auf dem Weg zum jüdischen Glaubensbekenntnis. Mit ihrer extrovertierten Art schafft Carla es, Ben aus seinem Loch zu helfen. Das ungleiche Paar entwickelt dabei eine tiefsinnige Freundschaft.
Between the Temples ist mit seinen emotionalen Tiefen und Höhen ein bitter-süßer Film. Alle Charaktere fühlen sich authentisch an (auch die zahlreichen Nebencharaktere). Die gelungene 1970er Ästhetik versetzt einen in die heimelige Welt des Filmes. Man möchte die Atmosphäre nicht verlassen und lange nach dem Abspann fragt man sich, wie es Ben und Carla in diesem Moment geht und was sie gerade machen.
Am Anfang vor der Aufführung des Dokumentarfilmes Realm of Satan, sagte der Regisseur Scott Cummings, dass es sich nicht um einen Film ÜBER die satanistische Kirche, sondern einen Film MIT der satanistischen Kirche handle. Mit Aufnahmen im Stil von Ulrich Seidl entführt uns Cummings in die unmittelbare Welt der modernen Satanisten. Und das war es leider schon mit der Zusammenfassung. Mehr hat dieser Dokumentarfilm nicht zu bieten. Für was die satanistische Kirche steht und warum die Mitglieder ihr beigetreten sind, wird nie erläutert. Der Film ist eine Aneinanderreihung schöner Bilder, ohne jegliche Menschlichkeit.
Wenn man den Film I saw the TV glow sieht, wird schnell klar, dass man es hier es mit einer neuen Stimme in der Filmwelt zu tun hat. Die transsexuelle Filmemacherin Jane Schoenbrunn teilt in ihrem zweiten Spielfilm ihre tiefsten und persönlichsten Eindrücke.
Der einsame Junge Owen (Ian Foreman, Justice Smith) befreundet sich mit dem schüchternen Mädchen Maddy (Brigette Lundy-Paine). Die beiden verbindet eine Leidenschaft für die Fernsehserie „The Pink Opaque“. Als die zwei älter werden, nimmt das Interesse für die Show bei Maddy zu. Sie entwickelt eine ungesunde Besessenheit für die Fernsehserie. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion wird für Maddy unklar.
Trotz der Abstraktion, die der Film kreiert, bleibt die emotionale Bindung der Charaktere bestehen. Der Film wird aus der Sichtweise der LGBTQ-Community erzählt, aber die Frage, mit der sich Schoenbrunn auseinandersetzt, ist für jeden greifbar: Was sind die Konsequenzen, wenn man sich selbst nicht treu bleibt?
Der Hollywood-Schauspieler Jesse Eisenberg begibt sich mit A Real Pain zum zweiten Mal in das Feld der Regisseure und Drehbuchautoren. In Eisenbergs Film geht es um zwei Cousins, die sich nach Polen begeben, um das Heimatland ihrer verstorbenen Großmutter kennenzulernen. Auf einer Holocaust-Tour versuchen die Cousins, die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren nachzuvollziehen. Die charakterlich unterschiedlichen Menschen geraten aber in Meinungsverschiedenheiten und befördern im Streit ihre größten Ängste und Sorgen ans Tageslicht.
Eisenberg schuf mit A Real Pain einen feinfühligen Film über Familienbeziehungen. Als Hintergrund dienen die Schauplätze in Polen, welches an die Gräueltaten des Holocausts erinnern. Dies bietet eine interessante Bühne, um die emotionalen Tiefen der Charaktere zu unterstreichen und schafft einen eindringlichen Kontrast zwischen persönlichem Schmerz und historischer Tragik. Das große Highlight dieses Films ist Kieran Culkin, der den extrovertierten, aber widersprüchlichen Cousin Benji verkörpert. Seine explosive Darstellung ist so fesselnd, dass jede neue Szene mit ihm gespannt erwartet wird.
Der Regisseur Kyoshi Kurosawa ist vor allem für seine Horrorfilme bekannt. In Cloud verlässt er das Genre und begibt sich in die Welt des Thrillers. Im Film geht es um einen jungen selbständigen Verkäufer, der sich durch dubiose Verkaufsstrategien im Internet schnell hocharbeitet. Im Laufe der Handlung häufen sich Feindschaften gegen den Online-Shop-Betreiber an. Seine Feinde verbünden sich: Es beginnt eine spannende Menschenjagd auf den jungen Mann.
Kyoshi Kurosawa ist hauptsächlich für seine düsteren Filme bekannt. In Cloud scheint er sich selbst nicht zu ernst genommen und einfach Spaß an den Dreharbeiten gehabt zu haben. Die psychologische Tiefe seiner anderen Filme sucht man hier vergebens, aber dennoch sind die meisterhaften Fingerabdrücke des Regisseurs erkenntlich. Das sorgt für ein grandioses Filmerlebnis.
Meine Highlights
Auf der Viennale gab es zwei Filme, die es mir besonders angetan haben.
Eine der beiden Filme ist Afternoons of Solitude von Albert Serra. In diesem Dokumentarfilm begleitet Serra den peruanischen Stierkämpfer Andrés Roca Rey. Mit wenigen Worten, aber eindrucksvollen Bildern, entführt uns der Film in die Welt des kontroversen Stierkampfs. Der Fokus liegt ganz auf dem Stier und dem Stierkämpfer – die Zuschauer werden nie gezeigt. Es ist ein nervenaufreibender Kampf zwischen Mensch und Tier. Insgesamt werden sechs Stierkämpfe gezeigt. Obwohl das Konzept des Films auf den ersten Blick repetitiv erscheint, zieht einen der hypnotische Tanz auf der Leinwand unweigerlich in seinen Bann. Afternoons of Solitude ist ein ausdrucksstarker Dokumentarfilm. Die Frage, ob Stierkämpfe ethisch vertretbar sind, wird nicht beantwortet. Das muss am Ende jeder für sich entscheiden.
Mein absoluter Lieblingsfilm auf der Viennale 2024 war der Film Anora von Sean Baker. Die junge Tänzerin und Sexarbeiterin Anora (Micky Madison) trifft im Stripclub auf Ivan (Mark Eidelshtein), den naiven Sohn eines russischen Oligarchen. Mit seinem extravaganten Lebensstil kann Ivan Anora überzeugen. Bei einem spontanen Trip nach Las Vegas heiraten Anora und Ivan. Was danach folgt ist eine wahnwitzige Odyssee durch das russische Viertel in Brighton Beach, New York.
Mit Anora wendet sich Sean Baker bereits zum fünften Mal dem Thema Sexarbeit zu. Sein einfühlsamer Blick auf eine oft stigmatisierte Welt verleiht seinen Filmen eine außergewöhnliche Menschlichkeit. Mit der selbstbewussten temperamentvollen Anora kreierte Baker gemeinsam mit Micky Madison einen Hauptcharakter, der noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Im Allgemeinen liegt die Großartigkeit von Anora bei den Charakteren. In diesem Film gibt es keinen Antagonisten. Jede Figur hat ihre Stärken und Schwächen. Dadurch hat man das Gefühl, echte Menschen auf der Leinwand zu sehen. Solche Figuren bekommt man im Kino nicht oft zu sehen.
Mit seiner zugleich einfühlsamen, aber auch lockeren Art tanzt der Film auf dem schmalen Grat zwischen Tragik und Komödie. Sean Baker balanciert beides meisterhaft und schöpft das Potenzial seiner grandiosen Schauspieler voll aus. Nicht umsonst bekam Anora die goldene Palme in Cannes.
Das war meine erste Viennale. Ich bin ohne große Erwartungen reingegangen und begeistert wieder herausgekommen. Da die Viennale gegen Jahresende stattfindet, bietet sie eine perfekte Rückschau auf das Filmjahr, indem sie Werke der großen Festivals wie Cannes, Berlinale oder Venedig präsentiert.
Die Viennale ist ein Filmfestival, das den Zuschauern die Möglichkeit bietet, direkt in filmische und gesellschaftliche Diskurse einzusteigen. Doch die Viennale ist mehr als nur Kino: Zahlreiche weitere Aktivitäten laden dazu ein, das Festival in all seinen Facetten zu erleben. In diesem Jahr wurde im Viennale Zentralino im Metro Kino die Gelegenheit geboten, Filmemacher und Filmemacherinnen wie Joshua Oppenheimer, Albert Serra und Bruno Dumont zu treffen. In spannenden Gesprächen gaben sie Einblicke in ihre Karrieren und diskutierten Themen, die ihre Werke prägen.
Der legendäre Filmkritiker Roger Ebert beschrieb Filme als „Empathy Machine“. Filme bieten uns die Möglichkeit, einen Einblick in das Leben anderer zu werfen. Die Viennale scheint sich dessen bewusst zu sein und zeigt uns eine ausbalancierte Wahl an Filmen, mit denen man einen vielschichtigen Einblick auf die Welt bekommt.
Mehr Infos: https://www.viennale.at/de