Interview mit Regisseurin Kathrin Herm und Schauspielerin Anne Wiederhold zur Inszenierung “weiter leben“ nach Ruth Klüger (1931-2020). Ein Kooperationsprojekt des Theater Nestroyhof Hamakom mit makemake produktionen in Koproduktion mit dem Verein Odeon und weiterer Kooperation mit Milieu Kino.
Aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation wurde die für den 15. 11. 2020 geplante Premiere des Stationentheaters “WEITER LEBEN”, nach Ruth Klügers autobiographischem Roman, als einzeln begehbare Videoinstallation auf den 3. 5. 2021 verschoben. Die kürzlich verstorbene Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger wurde 1931 in Wien geboren, überlebte den Holocaust, emigrierte in die USA und veröffentlichte 1992 ihren Roman “weiter leben. Eine Jugend“.
Neue Wiener Theaterkritik sprach in einem Online-Interview mit Regisseurin Kathrin Herm und Schauspielerin Anne Wiederhold über das Werk, gesellschaftspolitische Themen und den Wert der Erinnerung.
Wie geht es euch in der aktuellen Lage damit, dass ihr die Premiere auf Mai verschieben musstet? Wie sehr ist das Stück noch präsent?
Kathrin Herm: Wir haben bis kurz vor dem zweiten Lockdown geprobt, deshalb ist das Stück immer noch sehr präsent. Es ist eine spezielle Situation, die wir noch nie erlebt haben, eine Woche vor der Premiere das Stück archivieren zu müssen. Aber wir haben einen guten Zeitpunkt gewählt, um zu pausieren. Insofern bin ich optimistisch, dass bei der Wiederaufnahme des Probenprozesses alles gut funktioniert. Kleine Vorteile hat es auch, wir haben jetzt Zeit bessere Lösungen zu finden, allein technisch, denn das Projekt ist als Stationentheater logistisch sehr aufwändig.
Anne Wiederhold: Unser Mantra war „Wir sind optimistisch!“, weil positiv betrachtet könnte es sein, dass wir es im nächsten Jahr unter ganz normalen Bedingungen spielen können. Für alle war es ein abruptes Abbremsen. Es war ein ambivalentes Gefühl, sich dem Endprobenprozess ohne Resultat auszusetzen.
Kathrin Herm: Eine Woche nach der Ankündigung der Schließung der Theater war am 2.11. der Anschlag in Wien, mit dem wir viel emotional zu verhandeln hatten. Uns wurde noch einmal klar, wie wichtig, politisch und gesellschaftlich wertvoll dieses Thema und dieses Projekt hier in Wien sind. So kam neben der Verunsicherung auch ein neuer Kampfgeist auf.
Anne Wiederhold: Unser letzter Probentag war am 9. 11., dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938. Ich war unendlich dankbar dafür, da ich diesen Tag noch nie so sinnvoll begehen konnte.
Was hat der Anschlag für eure Arbeit bedeutet?
Kathrin Herm: Mich hat der Anschlag in der Auseinandersetzung mit unseren Stückthemen bestärkt und Bedeutung geschaffen, aber Verunsicherung war natürlich auch dabei, wie für alle Menschen, die in Wien waren. Die Dimension, politische und öffentliche Projekte zu machen wird noch bewusster. Das wurde ganz besonders an den Originalspielorten spürbar, im Vergleich zu den geschützten Theater- und Proberäumen. Wenn man im öffentlichen Raum sagt „Da durfte ich als Jüdin nicht hinein.“ drehen sich die Leute um und fragen, was hier erzählt und verhandelt wird. Der zweite Bezirk, der 9. 11. und der Anschlag machten diese Erfahrung noch einmal intensiver,
Anne Wiederhold: Am Mittwoch nach dem Anschlag war klar, dass wir weiter proben dürfen. Und da wurde es mir auch bewusst, dass das Stück jetzt eben noch wichtiger ist. Denn das, was wir erzählen, sind genau all die gesellschaftlichen Themen, die momentan wichtig sind, gerade in Wien.
Kathrin Herm: Dazu kommt auch, dass Ruth Klüger am 6. 10. 2020 verstorben ist. Ein zentrales Thema des autobiographischen Romans ist das Weitergeben der eigenen Geschichte, Erfahrung und Wissens. Wir sind an einem speziellen Moment der Geschichte, an dem die letzten Zeitzeug*innen sterben und dafür steht auch Ruth Klüger. Das gibt eine zusätzliche Motivation und andere Diskurse: Wie erinnert man sich, wenn man nicht dabei war? Wie eignet man sich die Geschichte an? Wie hängen Aktualität und der eigene Blick mit dem der anderen Generation zusammen? Diese Fragen wurden durch ihren Tod leider, aber notwendigerweise noch mehr auf den Punkt gebracht.
Welche Intention hattet ihr dabei, das Werk für die Bühne zu adaptieren? Welche Bedeutung hat Ruth Klüger für euch?
Anne Wiederhold: Ich bin sehr dankbar dafür, Ruth Klüger mehrmals getroffen zu haben. Es ist für mich unendlich wichtig, wie eine innere Bürde, diese Geschichte weiterzuerzählen.
Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass ich Deutsche bin. Ich, als Nachgeborene, egal ob in Deutschland oder in Österreich, habe das Gefühl, wahrscheinlich mein Leben lang Fragen zu stellen und zu überlegen, wie ich mich dazu positionieren kann. Für mich ist Klügers Buch “weiter leben. Eine Jugend” ein Jahrhundertwerk. Ich hoffe, dass viele Menschen diesem Text auf unterschiedliche Art und Weise nahekommen können, durch das Lesen oder durch das Theater.
Kathrin Herm: Ich finde auch, dass Ruth Klüger die Hauptmotivation war. “weiter leben” ist ein wahnsinnig toller Text und das hat wohl damit zu tun, dass sie eine wahnsinnig tolle Frau war. Sie hat eine unglaubliche Scharfsinnigkeit, sowohl im Beobachten von menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, aber auch von ganz persönlichen Strukturen. Sie hat einen kritischen Blick auf Andere, auf sich Selbst und auch auf die eigene jüdische Familie, aus der sie kommt. Es gibt das Bedürfnis, selbst verstehen wollen. Wie ist das passiert? Und wie ist das eine zum anderen gekommen? Da hat Ruth Klüger etwas sehr Präzises, auch fast Brutales, in der Genauigkeit, in der sie das tun und wissen will. Gleichzeitig finde ich persönlich, dass sie extrem humorvoll ist. Ich musste beim Lesen und auch beim Zuschauen häufig lachen. Sie hat einen sehr speziellen Humor, der häufig sehr trocken ist. Das macht es lustvoll mit dem Text zu arbeiten. In ihrem Schreiben hat sie auch immer einen hoffnungsvollen Anteil.
Der Arbeitsprozess hat etwas Theatrales, weil sie nicht nur Geschichten erzählt, sondern Diskurse verhandelt. Ich habe durch ihr Werk viel gelernt, auch über Schuld. Ich bin ebenfalls Deutsche und finde es interessant, dass auch Ruth Klüger von der Schuld des Überlebens spricht und einem spürbaren Kampf führt – nicht den zwischen Opfer sein und Täter sein, der unter den Deutschen der große gängige Konflikt war, sondern den zwischen Opfersein und frei sein. Dieser Perspektivenwechsel war ein bereichernder Aspekt. Es gibt aber viele weitere Diskurse, bei denen sie einen neuen Beitrag geleistet hat.
Anne Wiederhold: Es werden durch die Texte viele aktuelle Fragen und Diskurse aufgeworfen. Ruth Klüger spricht viel über ihre Flucht und lebenslange Zuschreibungen. Sie stellt die Frage der Legitimation von Vergleichen. Auch hinsichtlich Flucht und Verfolgung heute. Ich bemerke, dass Geflüchteten über Jahre zugeschrieben wird, dass sie geflüchtet sind. Dass sie in Traiskirchen, in Griechenland im Lager waren und mit dem Schlauchboot geflüchtet sind usw. Es gibt nichts Aktuelleres als Flüchtlingslager: ca. 60 Millionen Menschen auf dieser Welt sind auf der Flucht. Wir sprechen von Lagern und Flüchtlingsströmen. Die Menschen dahinter werden nicht mehr gesehen.
Der Zufall spielt bei Ruth Klüger eine wichtige Rolle. Wie wird die Frage des Zufalls im Text verhandelt?
Kathrin Herm: Bei der Thematik des Zufalls nach Ruth Klüger geht es um die Ablehnung einer nachträglichen Konstruktion von Sinn, wo es keinen gab. Das ist auch ein großes Thema für uns. An einer Stelle erwähnt sie ihren Radunfall, der ein Initialmoment war, ihre Geschichte aufzuarbeiten und in den Schreibprozess zu kommen. Dahinter stand die Frage: Sind Unfälle Zufälle? Sie sagt, dass Unfälle keine Zufälle sind, sie können von Statistiken vorausgesagt werden, aber wem sie passieren, ist das Entscheidende, und das kann nicht vorhergesagt werden. Auf der anderen Seite steht die Frage des Zufalls des Überlebens. Es gibt die zwei Enden eines gleichen Phänomens: Einmal als Jüdin geboren worden zu sein, die Ausgrenzung und die Verfolgungen miterleben zu müssen und auf der anderen Seite bei der Selektion die einzige Überlebende zu sein, die unter 15 Jahren war, wie es ihr passiert ist. Dass sie die Ausnahme war, war Zufall. Sie lehnt es ab, sich als auserkoren zu sehen.
Anne Wiederhold: Jede*r Überlebende hat seinen oder ihren besonderen Zufall. Auch heute sind es Zufälle bei Geflüchteten, wer überlebt und wer nicht.
Verleiht ihr nicht durch das Theaterstück den erwähnten Sinn?
Kathrin Herm: So wie ich Ruth Klüger verstanden habe ist ihre Verweigerung eines Sinns die Verweigerung etwas abzuschließen. Eine Alternative ist, den Diskurs zu behalten. So verstehe ich das Buch, so verstehe ich Theater grundsätzlich.
Was anstatt einem Sinn liegt dann der Rezeption von Ruth Klügers Werk zugrunde?
Kathrin Herm: Vielleicht geht es eher darum, dass wir den Dingen einen „Wert“ geben, anstatt eine „Bedeutung“. Zum Beispiel hat es einen „Wert“, sich selbst zu erkennen, sich damit zu beschäftigen. Anstatt die Geschichte einen Sinn zu verleihen, beschreibt sie ihre Absurdität. Das heißt nicht, alles sei einfach sinnlos – es hat eben die Qualität der Absurdität. Das zu zeigen, darum geht es uns natürlich auch.
Weswegen wollte Ruth Klüger diese Unabgeschlossenheit in ihrem Roman und ihrer Geschichte bewahren?
Kathrin Herm: Für Ruth Klüger bedeutet das, dass wir Menschen nicht abschließend geläutert aus der Geschichte hervorgegangen sind. Dem “Nie wieder” war sie sehr skeptisch gegenüber. Wenn man diese Aussage lediglich wie eine Floskel vor sich her trägt, verhindert sie noch nicht, dass solche Greul nie wieder passieren. Es braucht ein ständiges wachsam sein und sich abarbeiten. Sich selbst immer wieder in Frage zu stellen und sich bewusst zu machen, dass der Wille allein noch nicht alles ist. Deshalb lehnt sie es auch ab, aus dem, was ihr passiert ist, einen Sinn zu ziehen. Auf der eine Seite, wie schon gesagt, weil es ihn nicht gibt, auf der anderen Seite, weil das Bedürfnis, doch einen Sinn darin zu finden, wie ein unerschöpflicher Motor wirkt, die Auseinandersetzung mit der Geschichte immerfort weiterzuführen.
Anne Wiederhold: Was mir dazu noch wichtig ist, ist der Begriff der Zeugenschaft. Zeugenschaft bedeutet nach Klüger: „Es wird eine Zeit geben, wo das hier vorbei sein wird, und diese Nummer nur noch Indiz, Beweismaterial“ Das ist ihr klar geworden, als sie damals die Nummer tätowiert bekommen hat. Das war, wie sie beschreibt, ein ganz ambivalentes Gefühl: Einerseits ein Gefühl von unendlicher Erniedrigung und gleichzeitig dieses Bedürfnis Zeugnis darüber ablegen zu wollen für zukünftige Generationen.
Dies heute zu verhandeln kann auch bedeuten sich die Frage zu stellen: Von was sind wir eigentlich Zeugen, was tun wir und was lassen wir zu?
Neue Wiener Theaterkritik dankt makemake Produktionen für die Zusammenarbeit und Kathrin Herm und Anne Wiederhold für das spannende Interview!
Zur Premiere als Videoinstallation im Mai 2021 wird ein zweiter Teil des Interviews veröffentlicht werden.
Das Interview führten Norma Eggenberger, Johanna Krause und Veronika Schneider.
Foto Kathrin Herm: © Max Bohm
Foto Anne Wiederhold: © Ingo Petramer