Volx/Margareten /// 31. Jänner 2019 /// Watschenmann
Basierend auf dem Roman von Karin Peschka inszeniert Bérénice Hebenstreit ein eindringliches und publikumsnahes Stück, das die Wiener Gesellschaft der Nachkriegszeit aus einem kritischen Blickwinkel heraus betrachtet.
Wo liegt die Grenze zwischen “normal” und “verrückt”? Wann ist etwas “normal”? Sagt dieser Heinrich nicht etwas Wahres und wieso hört ihm eigentlich nie jemand wirklich zu? Diese Fragen schießen einem durch den Kopf, wenn man Katharina Klar dabei zuschaut, wie sie sich in dem dunkeln, orange ausgeleuchteten Vorführraum abstrampelt, weil der von ihr gespielte Heinrich der beste Watschenmann auf der Welt sein will.
Heinrich ist nicht “normal”. Das merkt man an der Art wie er geht, spricht und vor allem an den Dingen, die er sagt. Er sagt, er ist ein „Watschenmann“ und, dass der Krieg nicht vorbei wäre, sondern in den Menschen weiterwirke. Wenn man genau hinschaut, dann könne man das auch sehen. Sie schütteln den Kopf über den schmächtigen, blonden Buben. Nicht auf Heinrich zu achten ist kaum möglich, denn er lässt sich von Leuten auf der Straße verprügeln. Er ist das Ventil für die grantigen Wiener_innen, die neun Jahre nach dem Krieg ihren unterdrückten Frust, ihre Wut und ihre Angst im Alltag hinunterschlucken, bis Heinrich sie so lange provoziert, dass es nicht mehr anders geht und sie zuschlagen.
Das schlicht-gehaltene Bühnenbild und die wenigen Requisiten lassen das Spiel klar und echt wirken. Durch die alltagsnahen und umgangssprachlichen Erzählungen erzeugen die Darsteller_innen Stimmungsbilder in den Köpfen des Publikums. Öfters erkennt man sich oder andere in den eingespielten Phrasen der Wiener Passant_innen wieder.
„Ich hätte eh eingegriffen, hab nur auf den richtigen Moment gewartet.“
„(…) der Bub hat aber auch angefangen.“
Und weil sie sich dann schämen, weil sie eben gewartet haben, und den zierlichen kleinen Jungen so hilflos auf dem Boden sehen, lassen sie ein paar Münzen springen, damit sich der verrückte Blonde nicht mehr gar so schlecht fühlt. Dabei sind diese Passant_innen, die Heinrich so zurichten und abwerten in keinem Maße weniger „verrückt“ als er. Der Mann bei der Straßenbahn mit dem Hund hat dessen Welpen letztes Frühjahr gegessen, der Lichterl-Sigi hat sowieso einen Hau, das weiß jeder, und Lydia wartet seit Ewigkeiten auf ihren Schuster, der nicht aus dem Krieg zurückkehrt. Man sieht Verrücktheit in allen möglichen Farben und Formen und trotzdem wird immer nur Heinrich ermahnt, er solle doch endlich „normal“ werden.
Die Kritik an der bequemen Art der Wiener_innen, dem narzisstischen Glauben, der_die einzig Normale zu sein und der verstohlene Voyeurismus,der auf die vermeintlich „Verrückten“ gerichtet ist, werden durch tiefgehende Dialoge und einer symbolischen Inszenierung auf komplexe Weise nach und nach sichtbar. Die mit Gewalt durchzogenen Szenen werden rein verbal dargestellt und von den Darsteller_innen in ihren Gesten angedeutet. Nie sieht man jemanden, der geschlagen wird oder auf jemanden einschlägt, wodurch die Intensität des Missbrauches, sowohl psychisch als auch physisch, nochmal hervorsticht. Gewalt im Kopf wirkt so viel stärker als unmittelbare Gewalt vor dem Auge.
Das Publikum wird zum einen durch eine sehr nahe Inszenierung eingebunden, so sitzen in manchen Szenen Heinrich und der junger amerikanische Soldat Elmar direkt in der zweiten Reihe „im Gasthaus“. Zum anderen wird eine klare Grenze zwischen Erzählung und Charakteren gezogen. Vier Mikrophone an den zwei Seiten des raumebenen Schauspielplatzes bilden die Plattform für die Sicht aus der Vogelperspektive, während die Figuren im Stück selbst auf die Lautstärkenverstärkung ihrer Stimme verzichten. Die vier Schauspieler_innen stellen insgesamt 11 Rollen dar und schaffen es durch blitzartige Kostümwechsel und überzeugende Darstellung jeder dieser Figuren ihren eigenen Auftritt zu verschaffen.
Neben Gewalt und Verrückt oder Normal-Sein werden auch Dimensionen der Männlichkeit, Familie und die Auswirkung des Krieges thematisiert. Das Stück ist mit seinen 100 Minuten Spielzeit (ohne Pause) etwas lang, aber ohne dabei langwierig zu werden. Die grundlegend gut-gemeinte aber verschrobene Naivität von Heinrich in Kombination mit den plumpen Kontrast von Lydia lassen einige Lacher in dem sonst so schweren Stück zu. Ebenso wie Elmar, der mit seinem unumstößlichen Optimismus und einem schlechten amerikanischen Akzent eindeutig Publikumssympathie erntet.
Auch wenn man auf den Leitgedanken des Stückes nach und nach draufkommt, war es dennoch schwierig für mich jeder Szene folgen und ins Gesamtbild einordnen zu können. Die teilweise komplexen Dialoge ließen viel Interpretationsraum und lieferten für mich keine deutliche Antwort darauf, was denn nun eigentlich dieser „Watschenmann“ wirklich ist und wofür er stehen soll. Genau das regt aber im Nachhinein zum Nachdenken an. Durch die zeitlose Thematik und Parallelen zu heutigen Konflikten liefert das Stück eindeutig Gesprächsstoff, weil dieser Watschenmann kein eindimensionales Konstrukt ist, wodurch jeder ihn als etwas anderes interpretieren kann. Ein Abend, der unterhält und nachwirkt.