VOLX/Magareten /// 24. Oktober 2018 /// Werte Familie
Der Stoff für Werte Familie wurde im Gespräch mit den Frauen, die auf der Bühne als Schauspielerinnen mitwirken, erarbeitet. Das Stück ermöglicht Einblicke in andere Lebensrealitäten, Lebensrealitäten, außerhalb des Mutter-Vater-Kind(er)-Konzepts und berührt mit seiner Echtheit ungemein.
Am Anfang ist Maria, die heilige Mutter Gottes. Sie erscheint mir als Einstieg geradezu ideal, gehen doch Jessica Glause und ihr Ensemble dem Mythos „Familie“ aus ausschließlich weiblicher, mütterlicher Sicht auf den Grund. Genauer wird gefragt, was „Familie“ bedeuten kann und wie sie außerhalb der klassischen Vorstellung vom „heterosexuellen verheirateten Paar mit ein bis zwei biologischen Kindern“ aussieht und funktioniert.
Das Stück entstand durch den Input der fünf Laienschauspielerinnen, die ihre eigenen Erlebnisse vortragen. Diese Entscheidung bestimmt auch das Format des Stücks, in dem die Frauen meist in längeren Passagen monologartig von ihren Erfahrungen berichten, wodurch sich aus der Grundprämisse heraus kaum Dialog und generell wenig Interaktion ergibt. Und auch kaum Aktion: Man hätte den Abend als Frontalvortrag der fünf Frauen inszenieren können; Eine Entscheidung, die bei der Ernsthaftigkeit der angesprochenen Themen – schwierige Kindheit in einem Kinderheim, Obdachlosigkeit, Verlust von nahestehenden Familienmitgliedern, Versagensängsten, Identitätskrisen und -findung – auch in Ordnung gewesen wäre. Man hätte die Erzählungen der Frauen einfach für sich stehen lassen können. Aber das hat man nicht – und das war auch gut so. Und obwohl die Inhalte oft tragischer als komisch waren, hat man sich dazu entschieden, das Publikum öfter lachen zu lassen, während man über viele der Inhalte genauso gut hätte weinen können (habe ich dann auch, dazu später mehr).
Die Komik entsteht durch die oftmals ironischen Schilderungen oder zugespitzten Kommentare der Schauspielerinnen und eine Vielzahl an kitschig-bunten Requisiten und cartoonesken Soundeffekten, die on point eingespielt werden. Anstatt die Schauspielerinnen ihre Geschichten „nur“ vortragen zu lassen, herrscht auf der Bühne immerzu Bewegung: Spricht die eine, räumen die anderen im Hintergrund Requisiten weg oder unterstützen die anderen mit einer kleinen textlosen Untermalung. (Die Erzählung zu Was Sie schon immer über die Zeugung von Babys in lesbischen Beziehungen wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten wird beispielsweise unter dem Einsatz von Seifenspender, Riesenspritze und Standmixer dargestellt.) Zwischendurch einmal wird Michaela Eisold-Pernthaller auf einem hüfthohen goldenen Nashorn sitzend von zwei Kolleginnen auf der Bühne herumgerollt, denn: Warum auch nicht? Und: Wo kann man sowas kaufen?
Das Stück fühlt sich so an, als wären die Erfahrungen der Schauspielerinnen zu einem Gedankengang verschmolzen, der oftmals wie von selbst von Aspekt zu Aspekt weiterspringt. An den Stellen, an denen es etwas mehr als nur ein Stichwort der Vorgängerin braucht und ein Dialog und / oder eine szenische Handlung fällig wird, ist die Aufführung manchmal schwach; Man merkt an diesen Stellen, dass man es nicht mit „Profis“ zu tun hat. Aber diese Stellen sind vereinzelt und schnell vorüber, ohnehin werden sie von der Nähe und Echtheit der Erzählungen übertüncht. Der Charme der Performance entsteht auch an Stellen, wo’s nicht klappt: Als etwa Alexandra Yildiz zum dritten Mal innerhalb von kurzer Zeit bei ihrem Text hängt, deshalb „Luca“ (Luca Perfahl, Dramaturgiehospitanz und wohl auch der Soufleur der Produktion) ruft und dann, an das Publikum gerichtet, gleich hinterherschickt: „Ma, es mocht’s mi‘ so nerves!“ (etwa „Oh je, ihr macht mich so nervös!“ in Standarddeutsch) – Das war charmant, wie es menschlich war!
Und nachdem Yildiz von so vielen dramatischen Schicksalsschlägen – sehr schwierige Kindheit, lange Zeit abwesende Eltern, Obdachlosigkeit – erzählt hatte, stimmte sie mit einer solchen Nachdrücklichkeit und Zuversicht die inoffizelle Nationalhymne – eine Liebeserklärung an das Land, in dem ihr all das widerfahren ist – an: Das war ein hit right in the feels, da habe ich tatsächlich begonnen zu weinen.
Falls man es zwischen all den Zeilen noch nicht herausgelesen hat: Ich finde dieses Stück unfassbar gut und ich bin unendlich dankbar dafür, dass diese beeindruckenden Frauen ihre Geschichten geteilt haben und mir so neue Blickwinkel eröffnet wurden. Ich würde mir wünschen, dass dieses Stück durch die Stadt tourt, denn besprochen werden Familienkonstellationen, in denen sich wohl viele leichter verorten können als in einer weiteren konventionellen „Mutter-Vater-Kind-Erzählung“. An dieser Stelle könnte man sich fragen, warum eine erste Assoziation zu dem Begriff der „Familie“ trotzdem genau dieses Bild abruft.
TL; DR: Ein sehr ehrliches, lustiges und emotionales Stück über Familienkonstellationen außerhalb klassischer Mutter, Vater, Kind(er)-Geschichten, das viele Blickwinkel eröffnen kann und zum Weiterdenken anregt.
WERTE FAMILIE
von Jessica Glause und Ensemble (Shabnam Chamani, Michaela Eisold-Pernthaller, Maria Lodjin, Luciana Siegenthaler, Alexandra Yildiz)
Regie: Jessica Glause
Schauspiel: Shabnam Chamani, Michaela Eisold-Pernthaller, Maria Siegenthaler, Alexandra Yildiz
Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili
Musik: Gilbert Handler
Dramaturgie: Veronika Maurer
Regieassistenz: Mascha Mölkner
Dramaturgiehospitanz: Luca Perfahl
Bildrechte: (c) Christine Miess, Volkstheater