Ich habe mich in die Geschichte eines Wolfes verliebt. Die Inszenierung von Claudia Bossard (Text: Henriette Dushe) ist ein kostbares Kleinod, das ich gern mit nachhause genommen hätte. Drei Schwestern stehen dem Tod ihres Vaters gegenüber. Der höchst sensible und witzig-sympathische Abend ist am 5. Juni das letzte Mal in Graz zu sehen.
Auf der kleinen Bühne des Haus 2 des Grazer Schauspielhauses werden mir drei Kästen und je ein damit korrespondierendes Telefon vorgestellt. Eine zeitlang höre ich wechselnde Kassetten, die verschiedene Musiken spielen. Dann räkeln sich zwei Beine hinter oder aus einem Kasten hervor.
Die Kästen sind der Grundstock von Claudia Bossards ideenreicher und sensibel durchdachter Inszenierung. Ich schreibe sensibel durchdacht, weil die Bühnenelemente im Fortschritt des Textes ihre Bedeutung wandeln; beziehungsweise ihren Interpretationsspielraum verändern. So stellen in meinem Empfinden etwa die Kästen die jeweiligen, voneinander räumlich getrennten, Wohnorte der drei erwachsenen Schwestern dar. Irgendwann angestoßen vom veränderten Spiel der Schauspielerinnen und auch in Zusammenhang mit dem Text, stehe ich unter dem Eindruck, die drei Kästen seien die Kinderzimmer und so in ihrer Gesamtheit die Wohnung der heranwachsenden Schwestern – unter der Obhut des Vaters. Gegen Ende empfinde ich die Kästen – alles mögliche geöffnet, ausgebaut und herausgezerrt – als die durch die hinterbliebenen Schwestern ausgeräumte Wohnung des verstorbenen Vaters.
Als Feministin freue ich mich über diesen Text, der drei Frauen in ihrer Verschiedenartigkeit als solidarische Gruppe konstruiert. Henriette Dushe bedient sich lediglich des Vaters um etwas über die Frauen zu erzählen; sonstige männliche Protagonisten sucht man vergebens. Zwar bringt die mittlere Schwester ein Kind zur Welt, doch über die Umstände ihrer Empfängnis oder der Erziehung des Kindes erfahren wir nichts. Es ist ihr Kind und niemandes sonst. Die Beziehung zum Vater tritt als multiperspektivisch verhandelte, lebenslange Erfahrung aus dem Erzählungs-Geflecht zutage.
Die poetische Qualität des Textes hinsichtlich der Beziehung der Schwestern zueinander wird durch die Inszenierung des Textvortrags auf spannende Weise unterstützt. Monologe wechseln sich mit Dialogen und chorischen Sequenzen ab. Eine spricht allein, zwei sprechen miteinander, sie sprechen zu dritt und durcheinander, dann – Stille.
Konkretes und Angedeutetes vermischt sich zur Erzählung einer Familienbiographie, die einen autopoetischen Mehrwert in sich trägt: Die mittlere Schwester sucht von Beginn an nach einer Form. Sie imaginiert eine Wiese im Spätherbst, doch scheitert daran, drei Figuren in der Szenerie zu befestigen. Im Verlauf des Stückes, das auf berührende Weise auch gesellschaftliche Tabuthemen wie die Intimpflege seines pflegebedürftigen Vaters benennt, wird klar: Hier sucht nicht eine Theaterautorin nach einer innovativen dramatischen Form. Hier sucht eine Hinterbliebene nach einer Möglichkeit, das Zurückgebliebensein, die übriggebliebene Gemeinschaft und den Verlust eines Vorgeborenen denkbar zu machen.
Claudia Bossard hat diesen letzten Gedanken in einer unglaublich schönen, stillen und poetischen Schlusssequenz szenisch umgesetzt: Drei Schwestern sitzen mit dem Rücken zum Publikum auf einer beigen Landschaft aus mit Laken überzogenen Kästen und anderen Verlassenschaften. Die Überlebenden sitzen auf den Schultern der Vorgeborenen. Darin liegt alle Tragik und alle Schönheit des menschlichen Lebens.